Klaus-Peter Böge sagt: "Seit 38 Jahren steht mein Schlafzimmerfenster offen. Immer. Ich lüfte, wie es mir passt und wie es richtig ist." Möglicherweise muss also die Polizei anrücken in Lübeck, um den 67-jährigen Chef der "Wohngift- und Schimmelambulanz" zur Räson zu bringen. Denn derzeit bereitet die Bundesregierung eine Verschärfung des Baurechts vor. Ziel ist eine abermals novellierte Energieeinsparverordnung (EnEV) - und in diesem Zusammenhang könnte das individuelle Lüften bald vorbei sein.
Diskutiert wird die Verpflichtung zu automatisierten Lüftungsanlagen im Wohnbereich. Betroffen wären zunächst Neubauten; je nach Technik kostet der Einbau einige Tausend Euro. Aber irgendwann müssten auch die knapp 20 Millionen bestehenden Wohngebäude umgerüstet werden. Böge: "Es ist Wahnsinn."
Nein - Schimmel. Der breitet sich sprunghaft aus in Wohnungen und Einfamilienhäusern, Schulen und Büros. Weshalb Böges Schimmelambulanz im Dauereinsatz ist. Das Lüften ist zum Problem geworden - beziehungsweise das Nicht- oder Falschlüften. Studien zeigen, "dass bis zu 22 Prozent der Wohnungen Feuchteschäden aufweisen und unzureichend belüftete Wohnungen ein um 60 bis 70 Prozent erhöhtes Risiko für Schimmelpilzschäden haben". Die Kosten werden auf vier Milliarden Euro jährlich geschätzt.
Die Zahl der Schimmelpilzallergiker ist in Deutschland bereits auf mehr als neun Millionen Menschen angestiegen. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge steigt das Risiko für Atemwegserkrankungen und Asthma um bis zu 75 Prozent, wenn sich Menschen dauerhaft in Räumen mit Schimmelbefall aufhalten. 90 Prozent seiner Zeit verbringt der Mensch in Gebäuden. Der Schimmel ist gefährlich. Er geht einher mit Atemnot, Husten, Schnupfen, Hautreizungen oder Kopfschmerzen. Schimmel kann Entzündungen oder Infektionen verursachen. Er wächst auf Holz, Tapeten oder Teppichböden. Stets aber dort, wo es feucht ist.
Die Feuchtigkeit hat nicht nur draußen in diesen besonders verregneten Wochen zugenommen, sie nimmt auch drinnen so grausam zu wie die Tiefdruckgebiete. Ursächlich ist der Mensch selbst: Eine Familie - Papa, Mama, zwei Kinder - erzeugt allein durch die täglichen Aktivitäten zehn Liter Feuchtigkeit. Dazu kommen: Kochen, Duschen und Baden. Selbst Zimmerpflanzen machen aus Wohnungen Feuchtbiotope. Vor allem aber deshalb, weil die Häuser immer dichter werden. Das ist der "Käseglockeneffekt": Als die Häuser noch nicht mit Wärmedämmplatten und perfekten Fenstern ausgestattet waren, gab es einen natürlichen Luftwechsel. Heute müsste man 40-mal mehr als früher lüften, um das auszugleichen.
Wer soll das tun? Und wann? Die klassische Hausfrau kommt den Städten und Vororten zunehmend abhanden. Singlehaushalte nehmen dramatisch zu. Die Mobilität ebenso. Kurz: Deutschland lüftet nicht, es verschimmelt. Als läge ein Fluch des verstorbenen Friedensreich Hundertwasser auf dem Land. Der verfasste einst, in den gut belüfteten 1950er-Jahren, das "Verschimmelungsmanifest", um gegen das ungesunde Wohnen in modernistischen Bauten zu protestieren. Diese "sollen verschimmeln". Unfassbarerweise trifft das heute zu.