Die Fahnen Frankreichs, Deutschlands und der EU stehen auf Michael Clivots Schreibtisch eng beieinander. Clivot, 41, ist Bürgermeister der 6300-Einwohner-Gemeinde Gersheim an der Grenze zwischen dem Saarland und dem Département Moselle. Die Botschaft der Fahnen ist klar: Diese Grenze soll nicht trennen, sondern verbinden, Deutsche und Franzosen, die so lange um das Saarland stritten. Der SPD-Bürgermeister von Gersheim ist selber ein Kind der grenzüberschreitenden Zeit: die Mutter deutsch, der Vater französisch, Schule und Abitur in Frankreich, Studium im Saarland.
Die Unfreundlichkeit beidseits der Grenze wächst
Jetzt aber sitzt Michael Clivot mit ernstem Blick im Arbeitszimmer und spricht in die Kamera: "Leider muss ich feststellen, dass sich eine gewisse Feindschaft gegenüber unseren französischen Freunden breitgemacht hat", sagt er, "manche werden beschimpft und auf der Straße angehalten. Unsere Nachbarn sind aber Teil unseres Lebens, viele von ihnen arbeiten hier, auch jetzt in dieser schwierigen Zeit. Sie haben einen solchen Umgang nicht verdient." Es stimme schon, fügt er hinzu: Nicht alle Franzosen hielten sich daran, dass der Grenzübertritt für Einkäufe verboten sei - das täten aber auch nicht alle Saarländer.
Dass nun alle Grenzen zwischen dem Saarland und Frankreich bis auf fünf Übergänge geschlossen sind, sei für ihn ein Albtraum, 25 Jahre nach dem Ende der Schlagbäume, sagt Clivot. Er klagt über die "Hardliner, die nicht davor zurückschrecken, historische Errungenschaften über Bord zu werfen, um, wie auch immer, Stärke zu demonstrieren" - und nennt Innenminister Horst Seehofer (CSU). Es ist ein verzweifelter Appell, über der Seuchenbekämpfung die Völkerfreundschaft nicht zu vergessen.
Corona-Rassismus gegen Franzosen im Saarland? Das Video aus Gersheim verbreitete sich geschwind wie das Virus selber, bis nach Paris, wo es unter anderem die Zeitung Le Monde aufgriff. Auch im ZDF kam ein französischer Pendler zu Wort, der sagte, ein Polizist habe ihn als "dreckigen Franzosen" beschimpft. Und dem T-Online-Portal sagte die französische Generalkonsulin in Saarbrücken, Catherine Robinet, französische Bürger hätten ihr "von sehr unfreundlichem Verhalten ihnen gegenüber" berichtet: "Bei Kontrollen von Krankenschwestern und Putzfrauen, die seit vielen Jahren jeden Morgen um 5.30 Uhr die Grenze überqueren, könnte die Bundespolizei mehr Augenmaß und Sensibilität zeigen."
Damit war die Geschichte von den Saarländern, die ihre coronageplagten französischen Nachbarn als Seuchenüberbringer beschimpfen, auf höchster Ebene angekommen. Am Mittwoch vor Ostern entschuldigte sich Anke Rehlinger (SPD), die saarländische Wirtschaftsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin: Die Grenzkontrollen hätten "zu beschämenden Auswüchsen geführt". Auch sie hätten Berichte erreicht, wonach Franzosen beschimpft und deren Autos mit Eiern beworfen worden seien. Diese Vorfälle stünden "nicht für das Saarland mitten in Europa". Wer "die Notsituation für Ressentiments" missbrauche, der versündige sich. Auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) twitterte: "Corona kennt keine Nationalität", und: "Es tut weh zu sehen, wie unsere französischen FreundInnen bei uns teils beleidigt und angegangen werden."
Michael Clivot ist nun die Wirkung seiner kurzen Ansprache ein bisschen unheimlich. "Die Mehrheit der Saarländerinnen und Saarländer zeigt sich solidarisch, freundschaftlich und kollegial", betont er am Telefon. Zu seinen Aussagen aber stehe er. Ihn hätten viele weitere Berichte von Beschimpfungen erreicht, "mich hat auch jemand angerufen und gesagt, wir sollen die Scheißfranzosen aus dem Supermarkt bringen, die stecken uns alle an".
"Leute, regt euch ab" - das sei seine eigentliche Botschaft gewesen, sagt Clivot. Und die sei auch angekommen. Aber immer noch stehe er fassungslos vor den Absperrungen am Ortsausgang, die nun wieder Deutsche von Franzosen scheiden. Das treibt ihn um. "Warum hat man eine Mauer errichtet und keine gemeinsam verwaltete Membran geschaffen?" Das, fürchtet er, "wird uns noch schaden, wenn die Pandemie vorbei ist".