Russland:Zehntausende spazieren zum Protest

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Die Demonstrationen in ganz Russland richten sich vor allem gegen die Korruption im Staat. Ihr Organisator Alexej Nawalny muss mit 20 Tagen Arrest rechnen.

Von Julian Hans, Moskau

Polizisten nehmen in Moskau einen jungen Mann fest, der sich per T-Shirt für Alexej Nawalny als Russlands Präsidenten einsetzt. (Foto: Tatyana Makeyeva/Reuters)

"Geht doch in die Ukraine! Lasst euch doch von den Amerikanern durchfüttern!", ruft ein Mann mit grauem Haar. Er trägt seinen Enkel auf dem Arm. Sie sind gekommen, um eine Freiluft-Ausstellung über Russlands große Siege anzusehen, die am Nationalfeiertag im Zentrum Moskaus aufgebaut wurde. Historische Kostüme, historische Kanonen, Buchweizengrütze aus der Feldküche kostenlos. Aber vor den Metalldetektoren am Einlass auf die Twerskaja-Straße hat sich die Menge gestaut und plötzlich beginnen Sprechchöre: "Russland ohne Putin!", "Putin ist ein Dieb!", "Russland wird frei sein". Und mitten drin steht ein Großvater, der sich über den geplatzten Feiertagsausflug ärgert.

In mehr als 180 russischen Städten haben am Montag Zehntausende Menschen gegen Korruption an der Spitze des Staates demonstriert. "Wir fordern Antworten!" war die Losung des Aktionstages, zu dem der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aufgerufen hatten. Nawalnys Stiftung zur Bekämpfung der Korruption hatte im März in einem Film über ein Imperium aus Luxusimmobilien, Yachten und Weingütern berichtet, die über Strohmänner dem Premierminister Dmitrij Medwedjew gehören sollen. Fast 23 Millionen Mal wurde das Video bei Youtube aufgerufen. Aber weder Premier, Justiz noch der Kreml oder das Parlament haben auf die Vorwürfe regiert. Wie schon bei früheren spektakulären Recherchen der Korruptionsbekämpfer wurden die Vorwürfe ignoriert.

Nawalny war einer der Ersten in Moskau, die festgenommen wurden. Die Polizei fing den 41-Jährigen vor seinem Haus ab, als er sich kurz nach 13 Uhr auf den Weg zur Demonstration im Stadtzentrum machen wollte. Wegen Verstoßes gegen das strenge Versammlungsgesetz drohen ihm bis zu 20 Tage Arrest und eine Geldstrafe. Insgesamt kamen im ganzen Land bis zum späten Nachmittag etwa tausend Menschen in Polizeigewahrsam.

Anders als bei der letzten Anti-Korruptions-Demonstrationen am 26. März waren diesmal die meisten Aktionen angemeldet und auch genehmigt worden. In Moskau allerdings hatte Nawalny am Sonntagabend kurzfristig die genehmigte Route abgelehnt, weil die Stadtverwaltung die Organisatoren daran gehindert habe, am ursprünglich vorgesehenen Ort eine Bühne, Lautsprecher und Videoleinwände aufzustellen. Stattdessen rief Nawalny zu einem "friedlichen Spaziergang" über die Twerskaja-Straße auf, die vom Puschkin-Platz zum Kreml führt. Dort fand allerdings schon das historische Kostümfest statt.

Dass so viele Menschen dem Aufruf folgten, hat den Kreml als auch die Opposition überrascht

Mit dem Protest versuchen die Kreml-Gegner an den Erfolg vom März anzuschließen. Dass so viele Menschen dem Aufruf gefolgt sind, obwohl das Versammlungsrecht stark eingeschränkt ist und Demonstranten in der Vergangenheit zu mehrjährigen Lagerstrafen verurteilt worden waren, hat sowohl den Kreml als auch die Opposition selbst überrascht. Die Korruption ist eines der brennendsten Themen, das die Menschen unabhängig von ihrer politischen Einstellung aufregt. Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums vom März ist fast jeder Dritte der Ansicht, dass der Staat von der Spitze bis ins letzte Glied von Korruption zerfressen ist. Weitere 47 Prozent halten die Staatsorgane zumindest für tief korrupt. Zwei Drittel äußern die Überzeugung, dass Wladimir Putin voll oder zu großem Teil für die Korruption verantwortlich ist. Ebensoviele glauben, dass es möglich wäre, die Korruption auszumerzen oder zumindest spürbar zu verringern. Aber nicht einmal ein Drittel traut Putin zu, dass er das schafft.

Gleichzeitig liegen die Umfragewerte des Präsidenten nach wie vor hoch - im Mai ermittelte Lewada 81 Prozent Unterstützung für ihn. 63 Prozent bekundeten die Absicht, Putin zu wählen - für Alexej Nawalny bislang nur zwei Prozent. Allerdings hat dieser ein enormes Mobilisierungspotenzial. Fast 50 Wahlkampfbüros hat er in den vergangenen Monaten im ganzen Land eröffnet, Hunderttausende vor allem junge Menschen wollen seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im März 2018 durch freiwilliges Engagement unterstützen. Dagegen wirkt die Kreml-Partei Einiges Russland alt, wenig motiviert, und ihre Mitglieder stehen immer im Verdacht, nur aus Hoffnung auf eigene Vorteile mitzumachen.

© SZ vom 13.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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