Russland:Rasche Revision ohne Gitterstäbe

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Der Berufungsprozess gegen Michail Chodorkowskij ist auf die kommende Woche vertagt worden, da der Anwalt des einst reichsten Mannes Russlands im Krankenhaus liegt.

Daniel Brössler

In seiner Lage muss sich Michail Chodorkowskij schon über kleine Fortschritte freuen. Bei der ersten Verhandlung hatte er noch durch Gitterstäbe das Geschehen im Gerichtssaal verfolgen müssen. Bei der Anhörung im Revisionsverfahren im Neubau des Stadtgerichts geht es humaner zu.

Diesmal ist es eine Glasscheibe, die Chodorkowskij und seinen ebenfalls wegen Betrugs und Steuerhinterziehung im Mai zu neun Jahren Lagerhaft verurteilten Partner Platon Lebedew vom Rest des Saales trennt.

Bevor die drei Richter erscheinen, lächelt Chodorkowskij immer wieder ins Publikum, zwinkert seiner Mutter zu. Er ist dünn geworden, wirkt aber gut aufgelegt und kämpferisch. Lebedew macht einen weit weniger gefassten Eindruck. Gleich zu Beginn der Anhörung äußert er seinen "kategorischen Protest".

Gegen seinen Willen sei er ins Gericht gebracht worden. In einem Brief an seine Anwälte hatte Lebedew bereits erklärt, er wolle durch seine "Teilnahme an diesem Spektakel nicht die Illusion der Legitimität" des Prozesses unterstützen. Der Richter lässt Lebedew zurück ins Untersuchungsgefängnis bringen.

Nur noch ein Verteidiger übrig

Anwalt Leer sind im Gerichtssaal auch die für Chodorkowskijs Verteidiger reservierten Plätze. "Chodorkowskij, warum sind Ihre Anwälte nicht gekommen?", will der Vorsitzende Richter wissen. Ruhig erklärt der einst reichste Mann Russlands, dass er von seinen zehn Anwälten nur Genrich Padwa mit der Revision betraut habe, weil nur dieser das ganze Prozessmaterial habe sichten können.

Padwa aber liegt seit zwei Tagen im Krankenhaus , was er dem Gericht auch mitgeteilt hatte. Die Richter müssen daher nach mehrstündiger Beratung die Anhörung bis kommenden Montag vertagen. Das gibt Chodorkowskijs Verteidigern etwas mehr Zeit, aber aus ihrer Sicht bei weitem nicht genug. Sie beklagen die Eile, mit der das Gericht die von ihnen wegen unzähliger Formfehler angestrengte Revision durchzieht und vermuten dahinter politische Motive.

Chodorkowskij hat nämlich seine Kandidatur bei einer Parlamentsnachwahl im Dezember angekündigt. Seine Anhänger vermuten, Chodorkowskij solle bald rechtskräftig verurteilt sein, um seine Kandidatur zu verhindern.

(SZ vom 15.9.2005)

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