Russland:Justiz auf Abwegen

Wie Moskau trickreich versucht, sich den Urteilen des Menschenrechts-Gerichtshofs zu entziehen.

Von Julian Hans

Man muss einiges gewohnt sein, um bei dieser Logik nicht verrückt zu werden: Das russische Verfassungsgericht erlaubt es, dass Russland in Ausnahmefällen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht befolgt. Etwa dann, wenn dadurch die Menschenrechte in Russland verletzt würden. So wird der EGMR von der letzten Instanz bei der Verteidigung der Menschenrechte zu deren potenzieller Bedrohung gemacht.

Der Verdacht, dass sich Moskau hier einen Fluchtweg für den Fall schaffen ließ, dass die Straßburger Rechtsprechung zu unbequem werden könnte, wird durch den Anlass bestätigt: Es geht um zwei Milliarden Euro, die ehemaligen Yukos-Aktionären als Entschädigung zugesprochen wurden. Das Geld ließe sich vielleicht noch finden. Schlimmer aber wäre für Wladimir Putin das Eingeständnis, den Ölkonzern von Michail Chodorkowskij willkürlich zerschlagen und seine Anteilseigner enteignet zu haben. Die Entmachtung des Oligarchen war ein entscheidender Schritt zum Aufbau der eigenen Macht.

Die nun geöffnete Hintertür dürfte der Kreml bald auch anderweitig nutzen. Das muss man aus der Erfahrung mit der russischen Justiz befürchten, die etwa zum Vorwurf des Extremismus greift, um Liberale zu verfolgen, während Politiker und das Staatsfernsehen zu Hass und Gewalt aufrufen. Nur wenigen fällt das noch auf - weil man heute einiges gewohnt ist.

© SZ vom 15.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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