Russland in der Krise:Die Macht des Kreml bröckelt

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Mit Petrodollars erkaufte sich die russische Führung die Unterstützung für ihre Herrschaft - wegen der Finanzkrise kann sie sich das Patronage-System jetzt nicht mehr leisten.

Sonja Zekri

Ausgerechnet Nowotscherkassk. Hier, wo in den Sechzigern die Arbeiter rebellierten, weil die Produktionsnorm, aber nicht der Lohn erhöht wurde, ausgerechnet hier ließ Jewgenij Gontmacher sein albtraumhaftes Szenario spielen. Die Stadt im Süden Russlands ist wie Hunderte andere abhängig vom Gedeihen einer einzigen Fabrik. Sollte diese schließen, drohen politische Wirren, Lähmung, Untergang.

Russlands Reichtum beruht fast nur auf Rohstoffen: Aufbereitungsanlage für Gas im sibirischen Urengoj. (Foto: Foto: ddp)

Unter dem Titel "Nowotscherkassk 2009" beschrieb Gontmacher, Direktor des Instituts für Öffentliche Meinung, in einem Artikel für die Wirtschaftszeitung Wedomosti, wie Arbeiter Behörden besetzen und die politische Führung in die Flucht schlagen. Am Ende steht Moskau vor der Wahl zwischen einem Blutbad und der Wiederherstellung des sozialen Friedens mit Geld, das es nicht mehr hat.

Am Tag der Veröffentlichung bedankte sich ein hoher Regierungsbeamter telefonisch bei Gontmacher für die Anregungen. Wedomosti aber erhielt kurz darauf eine Verwarnung der Medienaufsicht: Der Text schüre "extremistische Aktivitäten". Zwar hat Präsident Dmitrij Medwedjew den Leiter der Medienaufsicht inzwischen entlassen. Angesichts der Wirtschaftskrise ist mit größeren Freiheiten für die Medien aber kaum zu rechnen. Das Wort "Rezession" ist in einigen Zeitungen bis heute geächtet.

Dabei gibt gerade der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Erschütterung und politischer Lähmung, zwischen ökonomischem und politischem Reformstau der Krise in Russland ihre Schärfe. Fast neun Jahre nach dem Machtantritt Wladimir Putins verfügt das Land über keinerlei Mechanismen mehr, um Interessenkonflikte auszuhandeln.

Während die Kreml-Partei "Einiges Russland" mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit den reibungslosen Vollzug aller Kreml-Entscheidungen garantiert und das Parteibuch in den Regionen die Voraussetzung für staatliche Förderung oder staatliche Duldung ist, zerlegt sich die Opposition selbst: Auf Anweisung des Kreml haben sich drei liberale Parteien aufgelöst und unter dem Titel "Gerechte Sache" als regierungstreuer Lockstoff für den Mittelstand neu gebildet.

Nikita Belych, Ex-Chef der demokratischen "Union der Rechten Kräfte", hat sich Medwedjew als Gouverneur zur Verfügung gestellt. Wer wie Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow für die Wiedereinführung der Direktwahl der Gouverneure eintrete, könne gleich kündigen, polterte Präsident Medwedjew. Seit Putin werden die Gouverneure vom Kreml eingesetzt. Der Kreml kauft den, der zu kaufen ist, den Rest bringt er zum Schweigen.

Die Opposition profitiert nicht von der Krise

Die Petrodollars haben die einstige Industrienation Russland in einen Rentenstaat verwandelt. Mit einem milliardenschweren Patronage-System hat der Kreml nicht nur den Eliten aus Wirtschaft und Politik den Verzicht auf Mitsprache vergoldet, sondern auch den einfachen Bürgern. Deshalb konnten bislang trotz Massenentlassungen nicht einmal die Kommunisten die Krise nutzen.

Und deshalb dürfte sich die potentielle Wählerschaft der Oppositionsbewegung "Solidarität" um Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow im Promillebereich bewegen. Inzwischen, so zeigen Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums, blicken die Russen zwar so bedrückt in die Zukunft wie zuletzt vor zehn Jahren. Die Zustimmung zu Putin und Medwedjew aber hat kaum gelitten.

Mit Stabilität hat das allerdings wenig zu tun. Seit Jahren kommt es zu regionalen Scharmützeln um Wohnraum, Benzinpreise, Korruption oder Enteignungen - wie in Sotschi, wo sich ein ganzer Bezirk gegen die Umsiedlung für die Olympia-Bauten wehrt. Vor drei Jahren protestierten Tausende Rentner, weil sie statt kostenloser Busfahrten Geld bekommen sollten, was die Kriegsgeneration als Demütigung empfand. Seitdem hat der Kreml keine großen sozialen Reformversuche mehr unternommen.

Dieses Erfolgsrezept aus autoritärem System und materiellem Wohlstand hat sich nun erledigt - und die politischen Folgen sind nicht absehbar. Von einem neuen Frühling für die Demokratie gehen jedenfalls die wenigsten aus, von fremdenfeindlichen Ausfällen dagegen mehr. Eines der Plakate in der Phantasie-Rebellion von Nowotscherkassk lautete "Russland den Russen".

© SZ vom 22.12.2008/che - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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