Regierungsbildung:Deutsche Reifeprüfung

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Eine Bundestagswahl ist kein Wunschkonzert. Die Parteien haben sich damit abzufinden, dass die Wähler ihre Wünsche nicht erfüllt und den Parteien statt dessen eine Aufgabe gestellt haben: schwierig, aber nicht unlösbar. Mit einer großen Koalition auf Zeit wäre die große Reifeprüfung bestanden.

Heribert Prantl

Berlin ist nicht Weimar, die Bundesrepublik eine ordentliche Demokratie und keine Fernseh-Hysterokratie. Politik ist keine Veranstaltung zur Pflege von Vorlieben und Eitelkeiten der Partei- und Fraktionsführer, keine immerwährende Party zur Selbstdarstellung von Merkel, Schröder, Fischer und Westerwelle.

Die deutschen Wähler haben den Parteien eine Aufgabe gestellt, und diese Aufgabe ist schwierig, aber gewiss nicht unlösbar. Sie ist im Parlament zu lösen, nach den Regeln des Grundgesetzes. Das hat gestern mit der Wahl der Fraktionsvorsitzenden begonnen. Man mag es so sehen: Die deutsche Politik hat ihre Reifeprüfung abzulegen. Ein Lob dem Wähler, der sie ihr abverlangt.

Kein Wunschkonzert

Eine Bundestagswahl ist nämlich kein Wunschkonzert für die Parteien und ihre Protagonisten. Sie haben sich damit abzufinden, dass die Wähler ihre Wünsche nicht erfüllt haben: Sie haben weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb gewählt, aber vieles andere ist möglich.

Sie haben, einerseits, die FDP gestärkt, andererseits, auch wenn das kaum einer sagt, den eher linken politischen Kräften die Mehrheit gegeben: SPD, Grüne, Linkspartei. Es ist dies, zugegeben, eine sehr disparate Linke, eine, in der sich einige partout nicht riechen können. Aber es ist eine Mehrheit.

Daraus müssen keine Konsequenzen gezogen werden, aber man muss das zur Kenntnis nehmen. Und selbst wenn man dies nicht tut: Deutschland ist auch dann nicht unregierbar; es ist nur unregierbar, wenn die führenden Politiker auf ihren Sturheiten beharren.

Dann allerdings wird es vorderhand keine der jetzt diskutierten Koalitionen geben. Dann wird alles ein Stück schwieriger, aber auch nicht chaotisch. Denn das Grundgesetz lenkt die Sache.

Nämlich so: Wenn Mitte Oktober der neue Bundestag zusammentritt, endet automatisch die Amtszeit des alten Bundeskanzlers. Sollte sich noch keine Mehrheits-Koalition zur Wahl eines neuen Kanzlers zusammengerauft haben, muss der Bundespräsident - nach pflichtgemäßem Ermessen - den bisherigen Kanzler ersuchen, die Geschäfte bis zur Ernennung des Nachfolgers weiterzuführen.

Das heißt: Schröder und Rot-Grün regieren als Minderheitsregierung weiter, sitzen im Sattel, bis sie jemand im Bundestag aus dem Sattel hebt. In dieser Position kann Schröder die Koalitionsverhandlerei gelassen betreiben und betrachten.

"...und dann wird man sehen"

Sollte der Bundespräsident die Geduld des Abwartens nicht besitzen und, augenzwinkernd, dem Bundestag Angela Merkel zur Wahl vorschlagen, wird ihr weder die Augenzwinkerei noch das napoleonische Motto "Man begibt sich in die Schlacht und dann wird man sehen" etwas helfen. Im ersten Wahlgang braucht sie eine absolute Mehrheit, und die kriegt sie nicht.

Im zweiten Wahlgang ist der Bundespräsident aus dem Spiel, es darf jede Fraktion ihren Kandidaten vorschlagen. Es treten dann Merkel und Schröder gegeneinander an. Wiederum ist absolute Mehrheit erforderlich. Hier ist es möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass im Schutz der geheimen Abstimmung - die Kanzlerwahl ist im Gegensatz zur Abstimmung über die Vertrauensfrage geheim - aus der Linkspartei heraus Schröder zur Mehrheit verholfen wird.

Andernfalls kommt es zum dritten Wahlgang, auf den sich die begehrlichen Blicke von Merkel und Schröder schon jetzt richten, weil dann die einfache Mehrheit genügt.

Chancen haben nun beide, die meisten hat Schröder. Wird er (oder Merkel) mit einfacher Mehrheit gewählt, kann der Bundespräsident ihn (oder sie) zum Kanzler (einer Minderheitsregierung) ernennen - oder die Neuwahl des Bundestags anordnen.

Das wäre ein Armutszeugnis: Reifeprüfung nicht bestanden! Der Präsident wird sich kaum zu diesem Schritt entschließen. Weil man das aber nie so genau weiß (womöglich ist Köhler, um den Minderheitskanzler Schröder zu verhindern, doch zur Neuwahl bereit), werden das die Abgeordneten verhindern: Wenn sie im dritten Wahlgang den Kanzler nicht mit einfacher, sondern nun doch mit absoluter Mehrheit wählen, muss (!) der Bundespräsident ihn ernennen, kann er den Bundestag nicht auflösen.

In diesem dritten, geheimen Wahlgang wird das Interesse vieler, soeben in den Bundestag gewählter Parlamentarier der kleineren Parteien an der Erhaltung ihres Mandats größer sein als an der Einhaltung einer Vorgabe ihrer Fraktionsführung, die mit dem Risiko von Neuwahlen behaftet ist.

Das heißt: Es wird, aus den kleineren Parteien heraus und aus Angst vor der Parlamentsauflösung, ein Kanzler nun mit absoluter Mehrheit gewählt werden - wohl eher Schröder als Merkel.

Auch im Bundestag gilt: Der kleine Mann denkt an sich selbst zuerst. Der mit absoluter Mehrheit gewählte Kanzler steht vorübergehend einer Minderheitsregierung vor. Der Druck aus Wirtschaft und Gesellschaft, den für labil gehaltenen Zustand zu beenden, wird groß sein: Es wird zu einer großen Koalition auf Zeit kommen, welche die Föderalismus- und Steuerreform anpackt, das Recht der Parlamentsauflösung reformiert - und sich dann verabschiedet.

Zu diesem Bündnis könnte man auch ohne die Umwege kommen, wenn schon jetzt gute Koalitionsverhandlungen geführt würden. Dann wäre die große Reifeprüfung bestanden. Aber manchmal dauert das Reifen halt etwas länger.

© SZ vom 21.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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