Rassismus-Opfer:"Der Tod ist mein Notausgang"

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Rechtsradikale sind schuld, dass er schwerstbehindert ist - seine Suizidankündigung ist Noël Martins Mittel, noch einmal etwas zu bewegen.

Karin Steinberger

Es gibt Tage, an denen fühlt er sich stark wie ein Bär, dann wackelt sein Stuhl vor lauter Energie, weil das Leben wieder einmal in seinem Kopf explodiert. An solchen Tagen sitzt er in seinem Wohnzimmer in Birmingham vor dem Gas-Kaminfeuer und träumt davon, noch einmal hinzufahren nach Mahlow.

Rassismus-Opfer Noël Martin (Foto: Foto: ddp)

Noch einmal dort sein, einfach so. Abends vor dem kleinen Bahnhof herumstehen, mitten in ihrem Revier, am Rondell, wo sie immer auf der Bank sitzen und Bier trinken und laut sind und den Leuten Angst machen mit ihrem lächerlichen Getue und NPD- und Anti-Antifa-Aufkleber hinterlassen.

Am Mahlower Nazi-Treff. Genau dort will er sich hinstellen: Noël Martin, 1959 in Jamaika geboren, von Neonazis vor elf Jahren in Mahlow mit Steinen beworfen, bis er mit seinem Auto gegen einen Baum raste. Querschnittsgelähmt, aber lebendig.

Das Leben findet nur noch im Kopf statt

"Schieb' mich vom Feuer weg", sagt er. Eine seiner Pflegerinnen schiebt ihn zur Seite. Nicht, weil der Kamin zu warm ist, sondern weil er denkt, dass er zu warm ist. Findet ja alles nur noch im Kopf statt, Hunger, Durst, Schmerz, das Leben.

Der Rest hängt an ihm dran, ein Körper ohne Resonanz, wie ein Sack. Arme, Beine, Rumpf, nutzloses Fleisch, nur noch gut für nässende Druckgeschwüre.

Er müsste eigentlich liegen, seit Monaten schon, die Wunden wollen nicht verheilen und sind gefährlich fortgeschritten, haben sich in seinen Körper hineingebohrt. Totes Fleisch. Er spürt die Geschwüre nicht, kann sie nur riechen, wenn die Pflegerinnen den Verband wechseln.

Aber die BBC will heute noch kommen, später Journalisten aus Österreich und Deutschland, er hat schon so viele Interviews im Liegen gegeben. Eingebettet in Berge aus Kissen, die seine Beine, seinen Rücken, seinen ganzen kaputten Körper stützen, entlasten.

Der ganze Mann kurios verdreht, geschüttelt von Spasmen, bei denen seine Beine durch die Luft flattern, als wollten sie weglaufen. Es hat etwas Entwürdigendes, so ein Interview im Bett. Also sitzt er in seinem Rollstuhl, dem Arzt zum Trotz.

Es macht ihm Freude, das Ungehorsamsein.

Die bockige Gemeinde

So wie es ihm Freude gemacht hat, 2001 noch einmal zurückzukehren nach Mahlow, fünf Jahre nach dem Unfall, mit viel Tamtam, wie ein siegreicher Feldherr. Damit hatten sie nicht gerechnet. Der gelähmte britische Bauunternehmer, den sie so gerne vergessen hätten, plötzlich wollte er wiederkommen.

Er rollte dann in die Idylle im Speckgürtel um Berlin ein wie das leibhaftige schlechte Gewissen. Umringt von schwarzen Bodyguards und Pflegerinnen, die ihm Zigaretten in den Mund steckten. Umringt von Kameras und Reportern, die herfielen über die brandenburgische Kleinstadtidylle und Fragen stellten, die keiner beantworten wollte. Die Gemeinde bockte.

Es war eine Gruppe von neu Zugezogenen, die nicht in einem als Nazikaff verschrienen Ort leben wollten und die sich schämten. Sie gründeten den Verein "Tolerantes Mahlow". Es waren fast ausschließlich Menschen, die noch gar nicht in Mahlow lebten, als Noël Martin und seine zwei Kollegen an jenem 16. Juni 1996 von Rechtsradikalen verfolgt wurden, den Glasower Damm entlang, bis die Täter einen Stein auf seinen Jaguar schleuderten, und er die Kontrolle über das Auto verlor.

Die "Zugezogenen" haben dafür gesorgt, dass vor Noël Martins Besuch damals innerhalb von ein paar Wochen noch schnell ein Mahnmal geschmiedet wurde und ein Baum gepflanzt. Als er sich am Vortag des Jahrestages dort hinbringen ließ, als er den Unfallort wieder sah, den frisch gepflanzten Baum, die kleine Astrid-Lindgren-Grundschule gegenüber, hat er erst einmal geweint.

Sie hatten einen Nazi engagiert, um ihn zu bewachen

Am nächsten Tag kamen Tausende, viele nicht aus Mahlow. Sie trugen Plakate, auf denen in bunten Buchstaben stand: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Noël Martin sprach von Zivilcourage. Er wusste, dass diejenigen, um die es ging, nicht da waren.

Dafür war die Polizei da. Der ganze Ort war voll. Und vor der Bühne stand ein Bursche als Bodyguard, den Noël Martin noch gut kannte. Sie hatten einen Nazi engagiert, um ihn zu bewachen. "Diese Jungs. Wie oft haben sie mir Heil Hitler nachgerufen. Und ich dachte mir immer: Lasst euch doch mal was anderes einfallen, das kenne ich schon." Sagt er. Im Hintergrund läuft der Fernseher, ganz leise, aber er läuft.

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"Weißt du, in meiner ganzen Zeit in Deutschland habe ich nie eine Kuh gesehen", sagt er plötzlich. Wo doch Deutschland in seiner Vorstellung immer voller Kühe war. Hinter ihm flackert das künstliche Feuer, darüber hängt der Text der jamaikanischen Nationalhymne: "Guard us with Thy mighty hand; / Keep us free from evil pow'rs, / Jamaica, Jamaica, Jamaica, land we love." Bewahre uns vor bösen Kräften. Und draußen vor dem Fenster leuchtet der Garten, umrahmt von Blumenbordüren.

Noël Martin bei einer Demonstration gegen Rassismus in Mahlow. Martin wurde dort Opfer einer rassistischen Gewalttat. (Foto: Foto: dpa (Archiv))

Er hat die Dinge unter Kontrolle

Jede einzelne Pflanze auf den Zentimeter genau platziert. Wie Soldaten. Alles so, wie Noël Martin es bestimmt hat. Er hat die Dinge unter Kontrolle, seitdem er nichts mehr unter Kontrolle hat. In der Küche hat er Hygiene-Regeln aufhängen lassen, die Schlüssel zu den oberen Etagen und seine Geldbörse sind immer in einer Tasche am Rollstuhl. Und er hat das gigantische Grab seiner Frau Jacqui tief in den Garten graben lassen, damit keiner sagen kann, die Toten belästigen die Lebenden.

Jacqui, die sich im April 2000 davongemacht hat, einfach so, todkrank. Wo es doch zwischen ihm und ihr die Abmachung gab, dass man, wenn dann, zusammen gehe. Weil er ja nicht einmal das mehr alleine kann. Sich umbringen.

"Zigarette", sagt Noël Martin. Eine weiße, zierliche Hand steckt ihm eine Benson&Hedges in den Mund, lässt ihn dran ziehen, nimmt sie wieder aus dem Mund. Sie steht fast immer neben ihm, jeden Tag, viele Stunden: Angie. Sie kennt Noël Martin, seitdem er als Zehnjähriger hier ankam, er, Sohn jamaikanischer Einwanderer, denen man versprochen hatte, dass in England die Straßen aus purem Gold seien.

"Und dann waren wir hier weniger wert als Hunde", sagt er, Schweiß rinnt über sein Gesicht, obwohl er friert. Angie trocknet ihn ab. Sie stand vor seiner Tür, als er aus Deutschland nach Hause kam, nach Monaten im Krankenhaus.

Angie lehnt am Kamin, wartet auf Anweisungen, schaut aus dem Fenster. Starr und wortlos, tut, als würde sie nicht zuhören, wenn er über sie redet, über seine Frau, seine acht Pflegerinnen, über ein Leben ohne Privatsphäre, die Nazis, seinen wunderschönen Jaguar, die Amerikaner. Waren sie wirklich auf dem Mond?

Nur einmal kichert sie, als er erzählt, wie er früher die Frauen verführt hat, als er noch lebendig war und voller Kraft. Wie er sie mit Blumen überschüttet hat, mit Gedichten. "Wenn du ihren Geburtstag vergisst, bring ihr Blumen", sagt er. Angie kichert. Ja, darüber sollte er ein Buch schreiben, sagt sie, schiebt ihm die Zigarette in den Mund. In seinem Haus hier in Birmingham spricht niemand darüber, dass es wahrscheinlich keinen Frauenblumenratgeber mehr geben wird.

Tage wie Sirup

Außerdem hat er gerade ein anderes Buch geschrieben. Vielmehr hat er seine Lebensgeschichte erzählt. Geordnet und aufgeschrieben hat sie Robin Herrnfeld, eine Amerikanerin, die in Deutschland lebt und sich seit Jahren um ihn kümmert: "Nenn' es mein Leben". Noël Martins Leben - von Jamaika in den Rollstuhl.

Das Buch hat ihn wieder ins Leben gespült, und in die Medien. Der Überfall ist ja lange her, es gab andere Opfer von Rechtsradikalen, andere Geschichten. Noël Martin war ein wenig vergessen. Aber jetzt stürmen die Journalisten wieder sein Haus. Das Fernsehen will ihn noch einmal nach Deutschland holen. Wenn er wieder sitzen darf. Das Buch soll verfilmt werden. Und jeden Tag Interviews.

An seinem 48.Geburtstag, so hat er es vor einem Jahr angekündigt, werde er in die Schweiz fahren zum Sterbehilfeverein Dignitas und Schluss machen. Sein Geburtstag ist am 23. Juli. Am Montag.

Jetzt rennt sie ihm also davon, die Zeit, die ihn in den letzten Jahren verrückt gemacht hat, weil sich Minuten in Ewigkeiten verwandelt haben. Das Liegen, das Sitzen, das Nichtstun. Tage wie Sirup. "Der Tod ist mein Notausgang", sagt Noël Martin. Aber er wird den Termin verstreichen lassen.

Erst muss er seinen Nachlass regeln, sein Haus, dieses riesige, viktorianische Backsteinhaus, das er als Bauunternehmer mit seiner Frau gekauft hat. Neun Schlafzimmer, vier Bäder, Himmelbetten, Goldverzierungen, Samtvorhänge, Löwensäulen, Spiegelwände. Jedes Zimmer ein Palast.

Er hat alles machen lassen, nach dem Tod seiner Frau, so wie sie sich das beide erträumt haben. Benutzt wurden die zwei oberen Stockwerke nie. Es ist sein verstaubtes Heiligtum.

Sein Geld soll helfen

Ihm ist wichtig, dass all das nicht einfach der britische Staat bekommt. Sein Geld soll Bedürftigen helfen, Kindern in Afrika. So viele Ideen hat er noch. Man müsste bei Mc Donald's ein Essen für sich und gleich dazu eines für Afrika kaufen können. Alle würden das machen, einen Burger für mich, einen für den Kongo, davon ist er überzeugt.

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Und er will den Austausch zwischen Schülern aus Birmingham und Mahlow ausweiten. Dreimal waren schon Mahlower Schüler da. "Ich will, dass die Jugendlichen nicht in die falsche Richtung gehen", sagt Noël Martin. "Ich will ihnen Birmingham zeigen, die Viertel, in denen mehr Schwarze leben als Weiße. Da können sie einmal spüren, wie es ist, anders zu sein, die Minderheit."

Er will, dass nicht noch mehr Nazis heranwachsen. Aber für all das braucht er Zeit. Dafür gibt er sich noch ein paar Wochen, oder Monate, oder Jahre. Wer weiß das schon. "Drei Monate", sagt er.

Auf Nazi-Internetseiten zerreißen sie sich deswegen ihr Maul über ihn. Seit einem Jahr mache der "jamaikanische Neger Werbung für seinen Selbstmord", steht da. "Reklametrick" für sein Buch nennen sie seine Ankündigung. "Hey, im Internet bin ich public enemy number one", sagt Noël Martin, kichert.

"Na und. Nicht jeder kann dein Freund sein." Er hat die Täter immer wieder aufgefordert, sich mit ihm zu treffen. Sie haben Jugendstrafen von fünf und sieben Jahre Haft bekommen. Er weiß, dass wieder beide draußen sind. Geantwortet haben sie nie.

Der Bürgermeister war verhindert

Von einem Ort der Erinnerung wurde gesprochen, von einem Symbol für alle Opfer, von sinnloser Gewalt und klaren Signalen. Zwei Schüler aus der gegenüberliegenden Astrid-Lindgren-Grundschule zeigten aufgeregt ihren Eintrag in der Baumchronik. Die Direktorin lächelte stolz, der Bürgermeister war verhindert.

Die Nazis kommen wie die Ratten

Oh ja, die Nazis. Die Jungs von der Antifa im Landkreis Teltow-Fläming sitzen am Tisch, geheimer Treffpunkt, keine Namen. Sie arbeiten verdeckt. Dann erzählen sie von Nazifesten, die die Polizei einfach laufen lasse. Die Rechtsradikalen, sagen sie, kommen in Mahlow abends, mit der Dämmerung, wie die Ratten, und sie fotografieren ihre Gegner, das sei ganz neu. Sie kreisen die Linken ein und fotografieren sie.

Und sie bekleben die Gegend mit Anti-Antifa-Slogans. Dann legen die Antifa-Leute eine Chronologie rechtsextremer Aktivitäten und Übergriffe in Blankenfelde-Mahlow seit dem 7.Januar 2006 auf den Tisch. Zwei vollgedruckte Seiten.

Von Propagandaflugblättern gegen die Forderungen der Jewish Claims Conference ist die Rede, von Reichskriegsflaggen auf Biertischen. Ein Nazikaff sei das hier, sagen sie, und die Bewohner täten so, als wüssten sie von nichts. Der ganze Ort ist verkracht, die einen seien zu zahm, die anderen zu heftig. Jugendliche packen Ketten ein, wenn sie nachts am Bahnhof vorbei müssen.

Wut? "Nein, Wut habe ich nicht. Dann wäre ich ja nicht besser als die", sagt Noël Martin. Er trägt fingerlose Handschuhe, wie ein Radler, damit sich die Hände nicht verkrampfen. Aus unerfindlichen Gründen kann er den rechten Arm leicht bewegen, kein Arzt weiß warum.

Wenn die Helferinnen seinen Arm auf die Lehne legen und seine Hand um den Joystick, kann er fahren mit dem teuren schwedischen Rollstuhl, mit dem er nur durch den Keller ins Haus kommt. Wenn er mit dem Kopf den Gang verstellt, kann er 25 Meilen in der Stunde fahren - extra power. Er rast Richtung Küche, über knarzende Dielen. Pflegerinnen springen zur Seite.

Früher fuhr er einen Jaguar.

Stelldichein am Rollrasen

Dann will er plötzlich jamaikanisch kochen, gibt Anweisungen: "Mach' erst mal Bob Marley an, nein, nein, die CD, auf der Special steht, da war er 14, das hörst du sonst nirgends." Zwei seiner Pflegerinnen durchwühlen die CDs, finden nichts. "Die oberste. Da steht es doch drauf: Special." Er wird ungeduldig, die Pflegerinnen auch.

"Gib mir einen Merlot", er deutet mit dem Kopf zum Regal, in dem der Wein steht. Er hatte auch schon Pflegerinnen, die ihn beklaut haben. Einmal haben sie ihn einfach stehenlassen, eine ganze Nacht lang, durstig, hungrig. Am Morgen saß er da, in den eigenen Exkrementen.

"Ist der Topf heiß? Gib einen dreiviertel Löffel schwarzen Pfeffer rein, Thymian, zwei Zwiebeln." Dann singt er. "Ich fühle bis hierher", sagt er, bewegt den Kopf, schaut sich auf die Brust. Da ist die Grenze, irgendwo kurz unter dem Hals hört sein Körper auf.

Es ist entwürdigend, für beide Seiten

"Alles, was noch funktioniert, ist mein Kopf", sagt Noël Martin und gibt ein Zeichen. Angie bringt den Rotwein, steckt ihm den rosa Strohhalm in den Mund. Dann die Zigarette. Es ist entwürdigend, für beide Seiten.

Natürlich weiß er, dass in Mahlow auch viel Böses über ihn gesagt wird. Mahlow, das sie in rechtsradikalen Kreisen "Reichshauptstadt" nennen. Ihm zu Ehren. Es gibt dort Leute, die von der "Noël-Martin-Lüge" reden. Sie sagen, dass er ein Zuhälter war, ein Drogendealer.

Die meisten wollen von "diesem Jamaikaner" nichts mehr hören. Der Mann sei betrunken gewesen und ein Stein nie geflogen. Andere sagen, dass sie nicht wissen, wer das ist. Noël Martin? So ist das in Mahlow. Es sind noch immer die "Zugewanderten", die versuchen, den schlechten Ruf der Gemeinde zu retten.

Sie standen auch dieses Jahr wieder um das Mahnmal herum. Am Tag davor hatte der Berliner Schmied Werner Mohrmann den zweiten Teil seines Werks aufgestellt, zum 2001 gepflanzten Baum und dem damals geschmiedeten Stamm mit Stein kam ein aufgeklapptes Buch. Auf der einen Seite kann man lesen, was am 16. Juni 1996 passiert ist. Auf der anderen Seite steht ein Gedicht von Noël Martin. Darunter wurde ein Rollrasen ausgelegt.

Im letzten Absatz: Gute und schlechte Tage

Anwesend waren außerdem Co-Autorin Robin Herrnfeld, einige Gründungsmitglieder des längst schon aufgelösten Vereins "Tolerantes Mahlow", der Jugendbeauftragte und der Ausländerbeauftragte der Gemeinde Blankenfelde-Mahlow, ein hier ansässiger Australier, drei Journalisten, neun Polizisten. Es war der elfte Jahrestag. Die Menschenmenge war überschaubar. Jeder kannte jeden.

"Zeckenomi, wie kriegen dich"

Nur Irmela Mensah-Schramm fiel mit ihrer verklebten, besprühten Kleidung ein bisschen aus dem Rahmen. Sie hatte die Stunden davor gearbeitet, hatte Naziaufkleber von Mauern und Laternenpfosten abgekratzt und Hakenkreuze übersprüht. Und sie hatte die Jungs ignoriert, die sie mit Fahrrädern verfolgten, die langsam an ihr vorbeifuhren, bedrohlich schauten.

Sie kennt das. "Zeckenomi, wir kriegen dich", das sind so die Sprüche. Sie macht das schon seit Jahren, Nazisticker abkratzen, sie hat Ausstellungen organisiert, hält Vorträge. Sie hat sich von Blankenfelde nach Mahlow vorgearbeitet. Es war viel zu tun. Jetzt stand sie da, sie blieb nicht allzu lange.

Enkel eines Sklaven, Sieger in Ascot

Und im rechtsradikalen Internetportal Störtebeker-Netz warten sie hämisch darauf, dass Noël Martin endlich macht, was er angekündigt hat: "Also Noël, nicht vergessen, versprochen ist versprochen." Aber Noël Martin lässt sich von keinem mehr drängen. Schon gar nicht von denen.

Er organisiert jetzt erst mal seine Geburtstagsparty am Montag. Wenn es nicht regnet, werden sie in den Garten gehen und feiern, gleich bei seiner Frau. Er kennt die Sprüche. Er hat sich diesen Quatsch ein Leben lang anhören müssen. Am Anfang auch in England.

Er kann sich an Wahlplakate erinnern, 1964 war das: "Wenn du einen Nigger als Nachbarn haben willst, wähle Labour." Als es in Birmingham besser wurde, ging er nach Deutschland, in den Osten. Er war Gipser, er war selbständig, er wurde gebraucht, also kam er. Und am Bahnhof Mahlow schrieen sie ihm "Scheiß Afrikaner" oder "Nigger" hinterher. Natürlich hatte er vom Rassismus in Deutschland gehört. "Aber ich bin ein Weltbewohner, mich kann so etwas nicht abhalten."

Und er mochte den Osten, den Spreewald, die Einsamkeit dort. Es hat ihn immer ein bisschen an Jamaika erinnert. Das Gerede hat ihn nie gestört. Schon eher diese Dummheit. Einmal wollte ihn ein Türsteher nicht in eine Diskothek reinlassen. Keine Schwarzen. Und drinnen spielten sie Michael Jackson. "Das ergibt doch keinen Sinn." Er hat das nie verstanden. Wie kannst du Rassist sein und schwarze Musik cool finden?" Sagt er, dann spielt wieder sein Körper verrückt, Angie trocknet sein Gesicht. "Irgendwas stimmt nicht", sagt er, eine zweite Pflegerin kommt, sie heben ihn hoch, rutschen ihn im Rollstuhl zurecht. Er hängt in ihren Armen wie ein schwerer Sack. Viel zu lange ist er gesessen. Egal, er will es ausnutzen. Heute ist ein guter Tag. Das Aufstehen hat nur drei Stunden gedauert.

"Weißt du, es gibt immer Menschen, die eine noch schwerere Last tragen", sagt er, dann lächelt er, weil er an Baddam denkt, sein Pferd. Ein Wundergaul, der schon zweimal in Ascot gewonnen hat. Vor einem Monat wurde er noch mal Zweiter. Man muss sich das vorstellen, er, Enkel eines Sklaven, ehemaliger Gipser, zweifacher Sieger in Ascot, vor den Augen der Queen.

Nie wird er den Tag vergessen, als er dem Vater sagte: "Paps, I won Ascot." Auf einem Ledersessel liegt eine Ausgabe des Magazins Owner & Breeder. Und er auf Seite 56: "Owner of the Month". Was stören ihn da die Nazis.

Aber es gibt auch schlechte Tage. An denen kann ihn schon eine Fliege zur Verzweiflung treiben, weil er ihr ausgeliefert ist: "Man muss sich das mal vorstellen, ich kämpfe gegen Fliegen." An schlechten Tagen plant er seine Zukunft, die Fahrt in die Schweiz, die Abwicklung. Das Lied hat er schon. Frank Sinatra: "I did it my way".

Mehr, findet er, gibt es nicht zu sagen. Sie werden Sinatra spielen, Angie wird ihn heimbringen nach Birmingham. Wird seine Urne durch sein Haus tragen, durch den dunklen Flur, über die knarzenden Dielen, in den Garten zu seiner Frau Jacqui. Es wird der erste Tag seit elf Jahren sein, an dem er wieder durch die Haustüre in sein Haus kommt.

(SZ vom 21.7.2007)

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