Pünktlichkeit:Wem die Stunde schlägt

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Ein britischer Minister verspätet sich im Parlament - und bietet sofort seinen Rücktritt an.

Von Martin Zips

"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte", schreibt der Argentinier Jorge Luis Borges in einem Gedicht, "würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen - ich würde mich mehr entspannen." Ach, wenn das nur so einfach wäre!

Der konservative britische Minister Lord Michael Walton Bates, 56, wirkte jedenfalls nicht sehr entspannt, als er am Mittwoch im House of Lords ankündigte, bei der Premierministerin seinen Rücktritt einzureichen. Der Grund: Er sei soeben ein paar Minuten zu spät zur parlamentarischen Fragestunde erschienen, das gehöre sich nicht. "Während der letzten fünf Jahre, in denen ich das Privileg hatte, im Auftrag der Regierung hier Fragen zu beantworten, war ich immer der Überzeugung, dass wir die höchsten Standards der Höflichkeit und des Respekts einhalten sollten", lautete seine Selbstkritik. Der Lord sprach's und verschwand. Ausgerechnet er, der sich im Entwicklungshilfeministerium so darum bemüht, anderen den Stress zu nehmen, war irgendwie selbst unter Stress geraten. Die Premierministerin lehnte sein Rücktrittsgesuch wenig später ab.

"Auch Pünktlichkeit kann töten", so heißt schon eine Kriminalgeschichte von Agatha Christie, in der einem Sir seine Verlässlichkeit zum schrecklichen Verhängnis wird. Glaubt man Zeitforschern wie dem Münchner Philosophen Karlheinz Geißler ("Time is honey"), so sind Uhren ohnehin nichts anderes als Diktatoren. "Die Zeit ist immer gleich. Nur wir Menschen stecken immer mehr hinein." Tatsächlich hat sich die Menschheit jahrtausendelang vor allem am ruhigen Rhythmus der Natur orientiert. Im alten Rom war der Laufschritt noch allein den Sklaven vorbehalten. Seit Erfindung der mechanischen Uhr jedoch ist es oft der Rhythmus menschlicher Büroklammern, der uns den Takt vorgibt. Und der wird immer schneller. Was also ist zu tun?

60 Prozent der Menschen wünschen sich laut einer aktuellen Studie einer deutschen Krankenkasse, Stress besser vermeiden und abbauen zu können. Dumm nur: Gleichzeitig beklagen sich mehr als 55 Prozent der Menschen über sinnlose Warterei im Alltag. Das sagt eine Studie der deutschen Gesellschaft für Konsumforschung. Wer, so möchte man mit Blick auf das britische Oberhaus fragen, leidet also mehr? Der Lord, der an seinem Zeitmanagement zerbricht? Oder das auf ihn wartende Parlament? Ein erster Ansatz zur Lösung des Problems könnte die Rückbesinnung auf das "akademische Viertel" sein. Das wohltuende "Cum Tempore" stammt aus einer Ära, in der den Studenten nach dem Schlag der Turmuhr noch ausreichend Zeit gewährt wurde, in den nächsten Unterrichtsraum zu wechseln. Gleitende Zeit, die den jungen Leuten zum Austausch, zur Bewegung und zum Nachdenken in frischer Luft zugutekam. Zeit, die sich auch Lord Bates unbedingt nehmen sollte. "Wir müssen generell wieder weg von der Zeit punkt-Planung, hin zu einer großzügigeren Zeit raum-Planung", meint Zeitforscher Geißler, 73. Er klingt optimistisch: Der Stress mit der Pünktlichkeit sei eh eher ein Problem der etwas Älteren. "Für Jüngere viel wichtiger ist: Verbindlichkeit. Die kommen zwar etwas später, haben das aber immer per Handy angekündigt."

© SZ vom 02.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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