Am Wochenende will sich eine Patientin von Tina Schmidt* umbringen. Vom Balkon springen, mit dem Leben Schluss machen. Doch die 50-jährige Patientin springt nicht. Sie lässt sich überreden, wieder in die Klinik zu gehen - dorthin, wo sie von Schmidt behandelt wird. Für die junge Psychotherapeutin zeigt der Vorfall, wie wichtig ihre Arbeit ist. "Einige unserer Patienten sind hochgefährdet", sagt Schmidt.
Viele von Schmidts Patienten durchleiden schwere Krisen, sie haben Albträume, Depressionen, Essstörungen. Die 29-jährige Diplom-Psychologin arbeitet in einer psychotherapeutischen Klinik in einer deutschen Großstadt. 1,50 Euro in der Stunde bekommt Schmidt. 1,50 Euro für die Betreuung suizidgefährdeter Menschen. Für ihre Ausbildung muss sie trotz niedrigen Gehalts monatlich bezahlen.
Wer krank ist, fragt nicht nach
Dabei hat Tina Schmidt alles richtig gemacht. Sie hat zwölf Semester Psychologie studiert, Abschluss mit Note 1,5. Nach dem Studium entschied sie sich für den Job als Psychotherapeutin. Insgesamt 1800 Stunden muss sie dafür als Auszubildende in einer Klinik arbeiten, so will es das Psychotherapeutengesetz aus dem Jahr 1999. Es soll verhindern, dass sich jeder Wunderheiler in Deutschland als Therapeut bezeichnen darf. In die Details der Ausbildung aber mischt sich der Gesetzgeber nicht ein. Das ist ein Problem.
In ihrer Klinik betreut Schmidt zurzeit vier Patienten. Sie trägt ein Namensschild, darauf steht: Tina Schmidt, PiA. Den meisten von Schmidts Patienten ist es egal, was PiA bedeutet. Wer krank ist, ist meist froh um Hilfe. Schmidt ist es nicht egal. Denn PiA bedeutet Psychotherapeut in Ausbildung, Status: Praktikantin. Doch wie kann es sein, dass Schmidt als diplomierte Psychologin noch immer Praktikantin ist, während Mediziner nach dem Studium als vollbezahlte Ärzte ins Berufsleben starten?
Auf Nachfrage beim Bundesgesundheitsministerium heißt es, "erst mit der psychotherapeutischen Ausbildung erwerben die Teilnehmer die Kompetenzen, die sie zur Patientenbehandlung befähigen". Die Behandlung von Patienten sei zudem nicht Inhalt der Ausbildung.
Den Rest der Arbeit übernehmen Therapeuten in Ausbildung
Tina Schmidt machen solche Sätze wütend. In ihrer Klinik sind zwei Stellen für ausgebildete Therapeuten vorgesehen. Für vier Stationen. Den Rest der Arbeit übernehmen acht Therapeuten in Ausbildung. Dass die PiAs dafür kein Geld bekommen, erklärt das Bundesgesundheitsministerium so: Weil die angehenden Therapeuten ihre Tätigkeit erst lernen, bestehe "kein Anspruch auf Bezahlung für geleistete Arbeit während der praktischen Ausbildung". Ralf Heyder vom Verband der Universitätsklinika Deutschlands ergänzt: Ein abgeschlossenes Psychologie-Studium erlaube noch keine Arbeit mit Patienten. Würden die Kliniken volles Gehalt zahlen, würde das dem Ausbildungsstatus der angehenden Therapeuten nicht gerecht. Dass angehende Therapeuten einen Großteil der Arbeit in Kliniken übernehmen, kann er nicht bestätigen.
Barbara Lubisch, Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, widerspricht. Von Einzelfällen könne keine Rede sein. Sie bestätigt, dass angehende Therapeuten einen hohen Anteil der Arbeit in den Kliniken übernehmen. "PiAs leisten in den Häusern qualifizierte Arbeit mit psychisch-kranken Patienten. Das muss angemessen bezahlt werden", so Lubisch.
Solange es keine einheitliche Regelung in Deutschland gibt, hängt die Bezahlung der angehenden Therapeuten vom guten Willen der Krankenhäuser ab. Je nach Andrang bezahlen manche Kliniken gar nichts. Die Uniklinik München vergütet angehende Psychotherapeuten mit 1000 Euro im Monat. Auch das ist weit entfernt vom durchschnittlichen Lohn eines diplomierten Psychologen, sichert aber immerhin die Lebensgrundlage der Auszubildenden.
Denn zu den niedrigen Gehältern kommt noch ein zweites Problem: Wer sich in Deutschland für die Weiterbildung zum Psychotherapeuten entscheidet, muss diese selbst bezahlen. Anders als bei Ärzten überlässt der Staat die Ausbildung von Psychotherapeuten privaten Instituten. Und die lassen sich ihre Arbeit kosten: 20 000 Euro wird Tina Schmidt nach drei Jahren bezahlt haben. Insgesamt 4200 Stunden umfasst die gesamte Ausbildung. Neben praktischer Tätigkeit in der Klinik lernen Schmidt und ihre Kollegen die nötige Theorie in Wochenendseminaren.
"Du musst es ja erst mal dahin schaffen"
Gesetzlich geregelt ist nicht, wie viel Geld die Institute dafür verlangen dürfen. Dass die angehenden Therapeuten für ihre Arbeit nicht bezahlt werden, ist nur möglich, weil PiAs weder Studenten noch Berufstätige sind. 150 Euro bekommt Schmidt für 100 Stunden Arbeit in der Klinik. Knapp 500 Euro zahlt sie jeden Monat an Ausbildungsgebühren an ihr Institut. Ein Minusgeschäft, Schmidt muss nebenher jobben.
Dass PiAs im letzten Teil ihrer Ausbildung 600 Stunden bezahlte Einzeltherapie anbieten dürfen und damit Geld verdienen, lässt Tina Schmidt als Gegenargument nicht gelten: "Du musst es ja erst mal dahin schaffen", sagt die 29-Jährige. Richtig ist allerdings auch: Die Aussicht auf einen Job als ausgebildeter Therapeut ist in Deutschland nach wie vor hoch. Der Bedarf an Psychotherapie steigt in Deutschland seit Jahren.
Scherzhaft nennen sie sich Psychotherapeuten in Ausbeutung
Die Bundesregierung will das Problem erkannt haben. Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle das Psychotherapeutengesetz samt den Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung überarbeiten. Diskutiert wird derzeit die Idee, ein eigenständiges Studium für Psychotherapeuten anzubieten. Ähnlich wie bei Ärzten durchliefen Therapeuten nach dem Abschluss eine mehrjährige Spezialisierung in Kliniken - festangestellt und voll bezahlt. Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung unterstützt das Reformvorhaben, doch für Kliniken würde die Neuregelung erhebliche Kosten bedeuten. Dass sich diese Idee durchsetzt, sehen viele PiAs deshalb skeptisch.
Scherzhaft nennen sie sich deshalb Psychotherapeuten in Ausbeutung. Hinter dem Witz steckt Ernst: Im Internet haben sie ein Portal gegründet, auf dem sich PiAs in ganz Deutschland vernetzen. Mit Videos wollen sie die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam machen. Am Donnerstag planen alle 38 deutschen Psychotherapeutenverbände eine Demonstration in Berlin, um gegen niedrige Stundensätze zu protestieren. Auch PiAs wollen sich beteiligen und vor dem Gesundheitsministerium für bessere Bedingungen trommeln.
Tina Schmidt will ihre Ausbildung nicht aufgeben: Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet sie neben der Klinik 25 Stunden als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt. "Die Arbeit mit den Patienten gibt mir viel zurück", sagt sie zu ihrer 50-Stunden-Woche. "Aber manchmal, wenn Patienten in Therapiesitzungen berichten, wie ausgelaugt sie sind, würde ich mich gerne dazusetzen und sagen: Das bin ich auch."
*Name von Redaktion geändert