Prozess um NS-Verbrechen:"Sie nannten mich Bubi"

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Der 94 Jahre alte Mann im Rollstuhl erinnert sich an erstaunliche Details seiner furchtbaren Vergangenheit. Im Prozess um die Massenmorde im KZ Stutthof berichtet der Angeklagte, warum er Wachmann bei der SS wurde.

Von Jana Stegemann, Münster

53 Minuten verliest sein Rechtsanwalt die Erklärung. 18 Seiten, die die Sicht eines jungen SS-Wachmanns auf die Geschehnisse im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig von 1942 bis 1944 beschreiben. Johann R., der hochbetagte Angeklagte, sitzt während der Einlassung erst regungslos in seinem Rollstuhl, dann nimmt er immer wieder ein weißes Stofftaschentuch zur Hand. Der 94-Jährige weint zum ersten Mal, als sein Anwalt die Stelle vorliest, wo es um die Häftlinge im Ghetto Debica bei Krakau geht. "Das war für mich ein großer Schock zu sehen, wie die Deutschen mit diesen Häftlingen umgegangen sind." Heute ist R. fast 95 Jahre alt, in wenigen Tagen hat er Geburtstag. Damals war er 18 Jahre alt. Der Mann aus dem Kreis Borken im Münsterland muss sich vor einer Jugendkammer des Landgerichts Münster wegen Beihilfe zum Mord in Hunderten Fällen im KZ Stutthof verantworten. Sein Prozess könnte der letzte NS-Prozess in Deutschland sein. Der größte Saal des Gerichts mit seinen 120 Plätzen reicht nicht aus für den Zuschauerandrang am dritten Prozesstag. Als SS-Wachmann tat R. Dienst auf Wachtürmen und überwachte Arbeitskommandos. Von systematischen Tötungen will er nichts mitbekommen haben, er habe den Ort für ein Strafgefangenenlager für polnische Intellektuelle gehalten. "In meiner Erinnerung gab es zunächst keine jüdischen Gefangenen". Laut Anklage ermordeten die Nazis in Stutthof 65 000 Menschen auf jede nur erdenkliche grausame Weise.

R. gibt an, in Rumänien als Kind einer streng religiösen und armen Bauersfamilie geboren worden zu sein. Im April 1942 sei er als Volksdeutscher zum Wehrdienst einberufen worden. "Meine Eltern und ich waren sehr verängstigt und erschrocken über diesen Aufruf. Es war keinesfalls eine freiwillige Meldung." In Debica hätten sich die Neuankömmlinge auf dem SS-Truppenübungsplatz auf einer Filmleinwand "Quax, der Bruchpilot" mit Heinz Rühmann" ansehen dürfen. Es sind erstaunliche Details, an die sich R. erinnert. Andere Rekruten seien begeistert gewesen von den "schneidigen Offizieren und dem gesamten Nimbus der Deutschen". Sein Bild habe sich aber schnell geändert. "Mir fiel es als christlich erzogener Mensch sehr schwer, damit klarzukommen, Teil derer zu sein, die so mit Menschen umgingen", verliest R.s Anwalt. Den Dienst habe er trotzdem getan - aus Angst vor den Nazis und deren Bestrafungsmethoden.

Er habe sich für den Zustand der Häftlinge geschämt, aber kein Mitleid gehabt, so der Angeklagte

"Ich war mit 18 Jahren der Jüngste und wohl mindestens der körperlich kleinste. Sie nannten mich Bubi." Durch sein schmächtiges Aussehen habe er einige Privilegien genossen, gibt R. an. Oft habe er einen gut ausgeleuchteten Wachposten bekleiden dürfen, auf dem "man nicht so viel Angst haben musste in der Nacht". Die Dienste auf dem Wachturm in der Nähe des Krematoriums seien am unbeliebtesten gewesen: "Der Gestank habe auch niemandem verborgen bleiben können. Das war emotional sicher der schwierigste Posten." Er selbst sei bei seinen Wachdiensten nicht bewaffnet gewesen. Es habe zwischen den Häftlingen und den Wachmännern "kaum Berührungspunkte" gegeben.

Gegen Ende seiner Dienstzeit habe er "große Schwierigkeiten" gehabt: "Die Häftlinge waren in einem grauenvollen Zustand. Ich habe mich geschämt. Mitleid wäre das falsche Wort. Mir fällt es schwer die richtigen Worte zu finden." Die Existenz einer Gaskammer sei ihm nicht bewusst gewesen, "wir gingen von einer Entlausungskammer aus". Doch er könne nicht sagen, ob er "damals den Mut aufgebracht hätte, anders zu handeln", wenn er die Wahrheit gekannt hätte.

© SZ vom 14.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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