Prozess in München:Ferne Rädelsführer

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Solidarität für Marxisten-Leninisten: Demonstration vor dem Oberlandesgericht München während der Urteilsverkündung am Dienstag. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Sie stehen nicht auf EU-Terrorlisten - dennoch werden zehn türkische Kommunisten von deutschen Richtern wegen gewaltsamer Umsturzpläne in der Heimat zu Haftstrafen verurteilt.

Von Paul Munzinger, München

Als Müslüm E. am Dienstagmorgen Saal A 101 des Oberlandesgerichts München betritt, reckt er die linke Faust Richtung Zuschauertribüne, die rechte klopft aufs Herz. Der schmale Mann erntet Applaus, kämpferisch, aber vereinzelt. Wegen Corona müssen viele Plätze frei bleiben. Wenig später verfolgt E. das Urteil, das das Gericht gegen ihn verhängt hat, die Übersetzung erreicht ihn über einen Knopf im Ohr. Es lautet: sechs Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung, der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP/ML). Auch die neun Mitangeklagten, sie stammen wie E. aus der Türkei, werden wegen Mitgliedschaft in der TKP/ML zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die niedrigste liegt bei zwei Jahren und neun Monaten, die höchste bei fünf Jahren.

Mehr als 40 Jahre Haft, verteilt auf zehn Angeklagte: Mit diesem Urteil endet einer der aufwendigsten und umstrittensten Prozesse der letzten Jahre in Deutschland. Das Terrorverfahren gegen die türkisch-stämmigen Kommunisten dauerte mehr als vier Jahre und 234 Verhandlungstage. Große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr es trotzdem nicht - ganz anders als etwa der NSU-Prozess, der bis zu seinem Ende im vorvergangenen Jahr im gleichen Raum stattgefunden hatte.

Aus Sicht der Verteidigung und der 250 Demonstranten, die sich vor dem Gerichtsgebäude versammelten, hätte es diesen Prozess nie geben dürfen. Anders als etwa die PKK ist die TKP/ML in Deutschland nicht verboten, sie steht auch auf keiner europäischen Terrorliste. Nur die Türkei stuft sie als Terrororganisation ein. Damit es überhaupt zu einem Prozess vor einem deutschen Gericht kommen konnte, musste das Justizministerium eine sogenannte Verfolgungsermächtigung erteilen. Antonia von der Behrens, Verteidigerin von Müslüm E., spricht deshalb von einer "Auftragsarbeit" für den türkischen Präsidenten Erdoğan. Das Urteil bezeichnet sie als "harte Haftstrafen in einem Verfahren, das allein im Interesse der Türkei geführt wird - gegen Menschen, denen in Deutschland keine Straftat vorgeworfen wird".

Das Gericht bewertet die 1972 gegründete TKP/ML als Organisation, die auf den gewaltsamen Umsturz der politischen Ordnung in der Türkei hinarbeite, wie Manfred Dauster, Vorsitzender Richter des 7. Strafsenats, am Dienstag ausführte. Sie wolle die herrschende Staatsform beseitigen und durch eine Diktatur des Proletariats ersetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, sehe sie auch den bewaffneten Kampf als legitimes Mittel an. Der militärische Arm der TKP/ML sei verantwortlich für eine Reihe von Anschlägen unter anderem auf das türkische Militär, bei denen zwischen 2004 und 2015 sechs Menschen getötet wurden, zwei von ihnen vorsätzlich. Vier Kinder starben bei einem Anschlag 2006, weil eine Bombe in einer Garage frühzeitig explodierte.

Eine Beteiligung an diesen Anschlägen, das betont auch das Gericht in seiner Urteilsbegründung, wird keinem der Angeklagten zur Last gelegt. Doch sie hätten "die Zwecke der Vereinigung in Kenntnis ihrer terroristischen Ausrichtung durch Betätigung in verschiedenen Gremien" gefördert. Müslüm E. gehörte demnach von 2002 bis zu seiner Verhaftung 2015 dem vierköpfigen Zentralkomitee der TKP/ML an und war für die wesentlichen Entscheidungen mitverantwortlich. 2004 wurde er zum Leiter des sogenannten "Auslandskomitees" ernannt, dem auch die übrigen neun Angeklagten in unterschiedlichen Funktionen angehörten. Unter anderem organisierten sie Propagandaveranstaltungen und Spendensammlungen in Deutschland. Das Geld kam laut Gericht der Gesamtorganisation zugute.

Mehrere Angeklagte lebten nach Angaben der Verteidigung als anerkannte Asylbewerber in Europa, unter ihnen Müslüm E. In der Türkei war er nach dem Militärputsch 1980 erstmals verhaftet und gefoltert worden, während seiner Haft ging er in den Hungerstreik. 1992 kam er frei, ein Jahr später wurde er erneut verhaftet und blieb bis 2002 im Gefängnis. Nach seiner Freilassung verließ er die Türkei.

Die Repressionen und die Folter legte das Gericht laut Dauster zugunsten der Angeklagten aus, ebenso wie den Umstand, dass die TKP/ML für die innere Sicherheit Deutschlands keine Gefahr darstelle. Die gehobene Stellung der Angeklagten aber habe sich zu ihren Ungunsten ausgewirkt. Den Vorwurf der Verteidigung, das Gericht habe sich wesentlich auf womöglich manipulierte Unterlagen türkischer Behörden gestützt, wies Dauster als "haltlos" zurück. Im Verfahren hätten Beweismittel aus der Türkei "nahezu keine Rolle" gespielt. Vielmehr seien eigene Unterlagen der TKP/ML herangezogen worden, etwa Bekennerschreiben nach Anschlägen, sowie Beweise, die im Zuge der Ermittlungen seit 2006 in Deutschland erhoben wurden. Dazu gehören aufgezeichnete Gespräche und beschlagnahmte Dokumente.

Die Verteidigung kündigte nach dem Urteil an, in Revision zu gehen. Das Gericht verließen am Dienstag aber alle Angeklagten in Freiheit, wegen der Zeit, die sie in Untersuchungshaft verbracht hatten. Bei Müslüm E. endete diese erst jetzt mit dem Urteil - nach mehr als fünf Jahren.

© SZ vom 29.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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