Proteste in Brasilien:Die Wut bleibt

Lesezeit: 3 Min.

Aktivisten auf dem Nationalkongress in Brasilia am Anfang dieser Woche: Das Spiel wird ernst. (Foto: AFP)

Die Demonstranten in Brasiliens Großstädten wollen nicht nur billigere Fahrscheine, sondern auch echte Reformen. Mit ihren Forderungen nach politischen Veränderungen setzen sie die Regierung unter Zugzwang. Von Präsidentin Dilma Rousseff hängt es nun ab, ob die Lage weiter eskaliert.

Von Johannes Kuhn

Als vor wenigen Tagen auf dem Nationalkongress die Schatten zu tanzen begannen, schien die ganze Sache noch wie ein Spiel. 80, vielleicht 100 Demonstranten waren in der Dunkelheit auf das Dach des Parlaments in Brasilia geklettert, das helle Gelb der Beleuchtung verzerrte das Abbild ihrer Gestalten zu Giganten. Die Protestierenden hatten die Volksvertretung erobert, wenn auch nur symbolisch, wenn auch nur für ein paar Momente bis zur Räumung.

Erwacht mit der Protestbewegung in Brasilien ein Riese, wie es im Slogan der Demonstranten heißt? Oder schrumpft der mächtige Schatten des Volkszorns im Sonnenlicht auf Zwergengröße? Bis zum Donnerstag setzte die brasilianische Regierung noch auf letzteres Szenario: Unter starkem Druck von Präsidentin Dilma Rousseff nahmen die Bürgermeister in Sao Paulo, Rio de Janeiro und anderen Städten die angekündigten Erhöhungen der Fahrpreise für den Öffentlichen Nahverkehr zurück.

Der symbolische Anlass der Proteste war aus der Welt. Die Wut, so zeigte sich nur wenige Stunden später, ist es nicht.

Mehrere Hunderttausend Menschen, nach Schätzungen von Aktivisten sogar weit mehr als eine Million, gingen in mehr als 100 Großstädten Brasiliens erneut auf die Straße. In Rio kam es teilweise zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein, vereinzelt setzten Demonstranten Barrikaden aus Müll in Brand, warfen Steine oder plünderten Geschäfte.

"Es geht nicht mehr um Bustickets"

Ein Mann starb, als ein Auto in eine Barrikade in der Nähe von Sao Paulo fuhr, insgesamt soll es hunderte Verletzte gegeben haben. Auch wenn es zynisch klingen mag: Das ist angesichts der hohen Teilnehmerzahl und dem Einsatz der als schlecht ausgebildet und rücksichtslos geltenden Militärpolizei sogar erstaunlich wenig.

Doch die Ereignisse der Nacht könnten nur ein Vorspiel sein - denn die eigentlichen Forderungen der Demonstranten kann die Regierung nur schwer erfüllen. "Es geht hier nicht mehr um Bustickets. Wir zahlen hohe Steuern und sind ein reiches Land, aber wir sehen nichts davon in unseren Schulen, Krankenhäusern und auf den Straßen", zitiert der Guardian einen Teilnehmer der Proteste.

In der Tat beinhalten die Kernforderungen der Demonstranten nichts weniger als eine Grundsatzreform des Landes. Brasilianer geben 36 Prozent des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts in Form von Steuern und Abgaben an den Staat ab, doch die öffentliche Infrastruktur profitiert davon zu wenig. Nun will die aufstrebende, meist junge Mittelschicht mit ihren öffentlichkeitswirksamen Protesten erreichen, dass sich das ändert.

Das öffentliche Bildungssystem ist finanziell schlecht ausgestattet, wirkliche Karriereperspektiven bieten sich vor allem Besuchern von Privatschulen. Gewalt und Korruption sind weiterhin an der Tagesordnung, das marode Krankensystem führt zu langen Schlangen vor Arztpraxen und Kliniken.

Zudem sorgt das Gefälle zwischen Normalbürgern und Reichen für Spannungen. Statt in den Ausbau von Straßen und Luftverkehrswegen investierte das größte Land Lateinamerikas lieber in Sportstätten der bevorstehenden Großereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische Spiele.

Wie wird die Präsidentin reagieren?

Präsidentin Rousseff, selbst einst junge, linke Rebellin, stellt dies vor große Probleme: Ihre Vorgängerregierung konnte durch den Rohstoffboom der vergangenen Jahre mit sinnvollen Sozialprogrammen mehr als 40 Millionen Brasilianer aus tiefster Armut holen. Doch nun flaut das Wachstum ab: Dem Staat fehlt derzeit das Geld, die entstandene untere Mittelschicht, die knapp über der Armutsgrenze balanciert, weiter zu unterstützen.

In den vergangenen Tagen bezeichnete die Präsidentin friedliche Demonstrationen als "Teil der Demokratie" und erklärte, man höre "die Stimmen, die nach Veränderung rufen." Doch ob versöhnliche Rhetorik allein angesichts der anhaltenden Proteste und der Gewalt, zu der es schon gekommen ist, genügt, ist fraglich. Einen Staatsbesuch in Japan sagte die 65-Jährige kurzfristig ab, um am Freitagmorgen brasilianischer Zeit in einer Sondersitzung mit ihrem Kabinett über die Ereignisse zu beraten. Womöglich wird sie am frühen Abend in einer Fernsehansprache das Wort an die Nation richten.

Von der Haltung der Präsidentin, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Anti-Korruptions-Maßnahmen sehr beliebt ist, wird abhängen, wie sich die Proteste weiter entwickeln. Bislang wirkten die Gouverneure noch mäßigend auf die Sicherheitskräfte ein, deren Übergriffe in der vergangenen Woche viele Protestierende erst mobilisiert hatten. Doch die Vorfälle der vergangenen Nacht zeigen, dass die Anspannung wächst.

Ein vielbeachtetes Amateurvideo lässt Aktivisten allerdings hoffen, dass eine Eskalation vermieden werden kann: Dort ist zu sehen, wie sich zwei Polizisten unter lautem Jubel zu den Demonstranten auf den Boden setzen, um ihre Solidarität zu zeigen.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: