Presseschau:Die argentinische Gretchenfrage

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Boris Herrmann ist SZ-Korrespondent in Lateinamerika. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Argentinien streitet über ein Gesetz zur Legalisierung von Abtreibungen. Die Presse erscheint über alle Lager hinweg recht einig. Aber die Politik steht vor einem Dilemma - und nächstes Jahr wird gewählt.

Von Boris Herrmann

Argentinien ist aufgewühlt und gespalten, nachdem der Senat ein Gesetz zur Legalisierung von Abtreibungen verhindert hat. Es ist eine ungewöhnliche Spaltung, sie verläuft quer durch die Parteien und trennt weniger links und rechts als Jung und Alt, Nord und Süd sowie die beiden Kammern des Parlaments. Das Abgeordnetenhaus hatte die Vorlage im Juni noch gebilligt. Die Spaltung führt gleichzeitig zu Allianzen, die man kaum für möglich gehalten hätte, etwa auf dem Markt der Tageszeitungen: Einträchtig kritisiert die sonst strikt nach Ideologien sortierte argentinische Presse die Entscheidung.

Die bürgerliche und auflagenstärkste Zeitung Clarín schimpft über die Senatoren, die gegen das Gesetz stimmten: "Sie sagen, sie verteidigen das Leben, aber tun nichts, um den Tod von Frauen zu verhindern, die bei heimlichen Abtreibungen sterben." Eine arme Frau müsse dasselbe Recht wie eine reiche haben, eine Schwangerschaft abzubrechen, ohne ihr Leben zu riskieren. Für die Belange der armen Argentinierinnen und Argentinier fühlt sich sonst eher die linksgerichtete Zeitung Página 12 zuständig. Natürlich befürwortet auch dieses Blatt ein modernes Abtreibungsrecht. Fast schon trotzig verkündet es einen Sieg in der Niederlage: "Wir haben gewonnen. Den uralten Geistern hat sich eine engagierte Jugend entgegengestellt, die im grünen Tuch ein Symbol der Gleichstellung entdeckt." An der grünen Farbe war in den zurückliegenden Wochen und Monaten jene Massenbewegung zu erkennen, die den Ruf nach dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen auf die Straßen trug.

Auch die Zeitung La Nación, keineswegs als links außen verschrien, hält die angestoßene Debatte für einen Erfolg. Vor einigen Monaten habe niemand gedacht, dass die Legalisierung überhaupt das Abgeordnetenhaus passieren würde. Auch wenn nun rechtlich alles beim Alten bleibt, also bei dem Gesetz von 1921, das Abtreibungen nur nach einer Vergewaltigung erlaubt oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, befindet La Nación: "Irgendetwas hat sich auf jeden Fall verändert." Ganz ähnlich heißt es in Página 12: "Die grüne Welle verändert das Land. Niemand kann diesen Wind stoppen."

Clarín beschreibt den Wandel ganz konkret: Mit dem hochemotionalen Streit über die Abtreibung sei bereits eines der Themen für den Wahlkampf im kommenden Jahr gesetzt. "Das hat die politische Landschaft umgekrempelt. Zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens werden sich alle Kandidaten zu dieser Frage positionieren müssen." Wer die Wahl gewinnen will, müsse sowohl den Befürwortern als auch den Gegnern etwas anbieten.

Man kann dieses Dilemma daran erkennen, dass sich Präsident Mauricio Macri in dem Streit bislang höchst vage verhält und die Senatorin Cristina Kirchner nun für eine Legalisierung stimmte, der sie in ihrer Zeit als Staatschefin stets im Weg stand. Clarín prophezeit, dass jede Partei ihren Präsidentschaftswahlkampf "von Provinz zu Provinz variieren wird" - je nachdem, wie dort die Wähler zur Abtreibung stehen. Das scheint die neue argentinische Version der Gretchenfrage zu sein.

© SZ vom 11.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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