Pop:Melodien für Milliarden

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"Despacito" soll der größte Sommerhit aller Zeiten sein. Doch wie wird der Erfolg eines Liedes eigentlich ermittelt?

Von David Pfeifer

Der Sommerhit ist keine Kategorie in den Charts, eher eine in den Herzen. Es gibt Menschen, die den Duft von Meersalz und Sonnencreme in der Nase haben, wenn sie "Happy" von Pharrell Williams hören. Andere erinnert "In the Summertime" von Mungo Jerry an Nächte auf der Spanischen Treppe, mit Wein aus dem Pappbecher. Dieses Jahr gibt es nicht nur einen Sommerhit, sondern sogar den erfolgreichsten Sommerhit aller Zeiten: "Despacito" von Luis Fonsi und Daddy Yankee. Es ist ein sanft gezupfter, gut gelaunter, sehr tanzbarer Latino-Song, der sich in seiner konventionellen Machart so zeitlos anhört, dass er in der Urlaubsdisco problemlos zwischen "La Bamba" und dem "Macarena" gespielt werden kann.

Er kam bereits im Januar auf den Markt, wurde rasch ein Erfolg auf der Videoplattform Youtube, wo man die beiden Interpreten auf Spanisch singen und rappen hört. "Despacito" bedeutet "langsam", es schwingt auch "einfühlsam" mit. Luis Fonsi und Daddy Yankee betonen im Text ihre Qualitäten als Verführer. Viele verstehen den Text aber ohnehin nicht.

Ein Hit in den USA wurde das Lied, als Justin Bieber den Refrain auf Englisch einsang, und die - nun ja - Botschaft für einen noch größeren Markt zugänglich machte. Seitdem hat "Despacito" Rekorde gebrochen: Die Version von Bieber stand 16 Wochen auf Platz eins der US-"Billboard Hot 100 Charts" und ist damit nicht nur das Lied, das sich am zweitlängsten auf dieser Position halten konnte, sondern erst das dritte mit spanischem Text - nach den Sommerhits "Macarena" (1996) und "La Bamba" (1987).

Nun gibt es seit einiger Zeit weit wichtigere Kategorien, die einen Hit definieren. Vergangene Woche erreichte "Despacito" einen Rekord, der heute unabhängig von Hitparaden für die Verbreitung von Hits steht: Das Musikvideo wurde mit mehr als 3,5 Milliarden Aufrufen der meistgespielte Clip, der bislang je auf Youtube zu sehen war (inklusive Katzenvideos). Dazu kamen 4,6 Milliarden Aufrufe auf Streamingportalen wie Spotify. In den deutschen Single-Charts steht er seit Wochen ganz weit oben.

So wird ein Lied zwar unglaublich erfolgreich, aber wird es dabei auch weltbekannt? Man muss den Sommer nicht hinter dem Mond verbracht haben, um "Despacito" überhört zu haben. Denn so wie die modernen Messmethoden für populären Erfolg neue Rekorde hervorbringen, so sehr sind sie auch mit einem alten Problem der Aufmerksamkeitsökonomie geschlagen: dem Filterblasen-Phänomen. Wer seine Musik nicht über Youtube oder Spotify hört, sich also beispielsweise noch Lieder kauft und bezahlt, auf iTunes oder im Plattenladen, der kann gut über den Sommer gekommen sein, ohne "Despacito" nur ein einziges Mal gehört zu haben. Es wäre also nicht nur der "erfolgreichste Sommerhit aller Zeiten", wie vergangene Woche gemeldet wurde, sondern auch der unbekannteste - je nach Zielgruppe.

Hierzulande steht der Beweis für die Legitimität des Titels "größter Hit" noch aus. Am 16. September beginnt das Oktoberfest. Nur was dort im Bierzelt gespielt wird, hat es in den Kanon der Gassenhauer geschafft.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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