Politologie:In der Druckkammer der Öffentlichkeit

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Wieso agieren Politiker so, wie sie agieren? Philip Manow versucht, der Demokratie über ihre tägliche Praxis näherzukommen. Dazu hat er kluge und streitbare Thesen ersonnen.

Von Paul Munzinger

Im letzten Kapitel seines Buches mokiert sich Philip Manow über den Zehnpunkteplan. Ist es nicht wundersam, dass Politikern meist nicht etwa neun, elf oder 47 Ideen kommen, um ein Problem zu lösen, sondern genau zehn? Dass sich diese Ideen quasi selbständig zu einem knackigen Zehnpunkteplan verschnüren? Schon richtig. Komisch nur, dass Manow diese Frage nicht auch auf sein eigenes Buch übertragen hat. Ist es nicht ebenso wundersam, dass sich seine Ideen wie von Zauberhand ins Alphabet einreihen, so dass am Ende ein Wörterbuch von A wie "Applausminuten" bis Z wie "Zehnpunkteplan" dabei herauskommt? Ein Wörterbuch, das nicht einmal die Problembuchstaben Q, X und Y aussparen muss?

"Nicht der Politiker inszeniert sich, sondern wir ihn", analysiert der Autor

Die Antwort ist einfach. Nein, ist es nicht. Die ABC-Kette reißt in Manows Buch über "Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie" nur deshalb nicht, weil viele Kapitel mit grenzenlos kryptischen Titeln ins Glied gezwungen werden: G wie "Gullydeckel (und Kokosnüsse - und Kamele)", K wie "Kinsley gaffe", Ö wie "Öltanks (ich bin zwei)" oder auch S wie "Stamina". Noch Fragen?

Beim Blick ins Inhaltsverzeichnis ist der erste Eindruck des Lesers: maximale Orientierungslosigkeit. Das ist nur einer der Gründe, warum dieses Buch schwer daran zu tragen hat, ein Wörterbuch zu sein. Und es ist bedauerlich, denn viele Gedanken, die sich hinter den Kapitelüberschriften im wahrsten Sinne des Wortes verbergen, wären es durchaus wert, entdeckt zu werden. Der Bremer Politologe Manow will dem Wesen der Demokratie nicht über ihre Theorie näherkommen, sondern über ihre alltägliche Praxis, über ihre "zentralen Nebensächlichkeiten" und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten: Warum sprechen Politiker, wie sie sprechen? Warum kleiden sie sich, wie sie sich kleiden? Warum wohnen sie, wie sie wohnen? Warum wählen wir, wie wir wählen? Und was verrät das alles über die Demokratie - und über uns, die Wähler? Immer wieder findet Manow Antworten, die überzeugen - oder, je nach Blickwinkel, zum Widerspruch anregen.

Abbilder von Ritualen und (Selbst-)Inszenierungen: die gierige mediale Öffentlichkeit,...

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(Foto: Michael Kappeler/dpa)

...das Handwerkszeug der Kanzlerin,...

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(Foto: dpa)

...das Schuhwerk der CSU-Landesgruppenvorsitzenden Gerda Hasselfeldt,...

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(Foto: Günther Reger)

...die Überbleibsel einer Wahlparty.

Merkels Raute zum Beispiel. Bedeutet sie tatsächlich gar nichts, wie die Kanzlerin einmal versicherte? Manow glaubt das nicht. Für ihn ist Merkels Raute ein Abwehrreflex gegen eine übergriffige Öffentlichkeit, die den Politiker einer ständigen Beobachtung unterzieht, die jede kleine Geste, jedes Wort, jede Gesichtsregung interpretiere, kritisiere, imitiere, lächerlich oder verächtlich mache. "Der politische Repräsentant", schreibt Manow, "gehört gänzlich den Repräsentierten". Und in einem Akt von Notwehr gibt er ihnen: nichts. "Politisches Überleben durch mediales Totstellen - indem man zur Statue erstarrt und ikonisch wird." Um eine Inszenierung handle es sich also gerade nicht, denn: "Nicht der Politiker inszeniert sich, sondern wir ihn".

Wären wir nicht - Stichwort Wörterbuch - bereits beim Buchstaben R, könnte man sagen: Damit ist der Ton gesetzt. Denn egal, welche Nebensächlichkeiten des Politischen Manow sich in den anderen Kapiteln vornimmt und anekdotenreich analysiert, das Ergebnis bleibt stets mehr oder minder das Gleiche: In der medial bis in die letzte Ecke ausgeleuchteten Demokratie ist es für ihn der Wähler, der das Erscheinungsbild der Politik formt. Die Sprache der Politiker, ihre Häuser, ihre Frisuren, ihre Vorlieben beim Essen, ihre sportlichen Aktivitäten, ihr Verhältnis zu Tieren und Alkohol - alles "Normcore", austauschbar, glatt geschliffen in der Druckkammer der Öffentlichkeit. Das politische Personal versammelt sich in der demokratisch akzeptablen Mitte und "panzert" sich ein - sprachlich, äußerlich, menschlich.

Philip Manow: Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie. Von Applausminuten, Föhnfrisuren und Zehnpunkteplänen. Rowohlt Polaris Reinbek 2017, 320 Seiten, 14,99 Euro. E-Book: 12,99 Euro. (Foto: rowohlt)

Manows harsche Analyse richtet sich aber nicht etwa gegen die Demokratie. Im Gegenteil, die repräsentative Demokratie verteidigt er entschieden, sein Wörterbuch wird hier zur Streitschrift. Gegen das Gebot grenzenloser Transparenz, den "Fetisch der Demokratie", der Politik zu einem "Drama des Geheimnisses und seiner Aufdeckung" reduziere. Gegen Forderungen nach einer durch die Technik ermöglichten, "wahrhaft" direkten Demokratie, die er als "naiven Traum vom Ende der Repräsentation" abtut, "von einem irgendwie direkten Zusammenlöten von Einzel- und Kollektivwillen". Und vor allem gegen das, was er die "Schizophrenie des Publikums" nennt. Angeödet wende es sich von dem Mittelmaß ab, das es selbst erschaffen hat. Manow will das nicht gelten lassen. Die Klage über die "erstarrte Formelhaftigkeit der Politikersprache" etwa sei nichts anderes als "Heuchelei, die jene für den Modus permanenter Nicht-Authentizität verantwortlich machen will, denen wir diesen Modus aufzwingen". Manow selbst geht, wenn man so will, mit gutem Beispiel voran und entzieht sich dem "Modus permanenter Nicht-Authentizität" mit viel Polemik und noch mehr vermeidbaren Kalauern.

Vor allem aber verweist er, ganz ernsthaft, auf Fragen, die spätestens seit dem Wahlsieg von Donald Trump zu den fundamentalsten der politischen Gegenwart gehören. Wieso haben gerade heute Politiker mit dem bewussten Ausscheren aus der Mitte so viel Erfolg? Wieso belohnen gerade heute so viele Wähler die vorsätzliche Verletzung der etablierten demokratischen Codes? Wieso applaudieren sie gerade heute einer "Antirhetorik-Rhetorik im Dienste einer Antipolitik-Politik", wie es im Buch mit Blick auf Donald Trump heißt? Beantworten kann auch Manow diese Fragen nicht. Aber sein Buch hilft, die Zeichen der Zeit besser zu verstehen.

© SZ vom 24.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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