Politisches Vakuum in Israel:Das letzte Gefecht eines Unbesiegbaren

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Der Todeskampf von Ariel Scharon schweißt Israel zusammen. Selbst die Gegner des 77-Jährigen beten für seine baldige Genesung. Doch alle Anzeichen sprechen gegen eine Rückkehr des Ministerpräsidenten in die Politik.

Thorsten Schmitz

Der Eingang des Hadassah-Krankenhauses nahe Jerusalem hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Hunderte Polizisten, Grenzschutzbeamte und in Zivil gekleidete Leibwächter kontrollieren alle Eingänge, und schon auf der Zufahrtsstraße muss sich jeder ausweisen. In Sichtweite zum Eingang der Notaufnahme campieren seit Mittwochnacht Hunderte Journalisten aus aller Welt, ständig werden Scheinwerfer angeschaltet, Moderatorengesichter gepudert, Krawatten geradegerückt - und dieselben Sätze in Dutzenden verschiedenen Sprachen auf Fernsehbildschirme in alle Welt gesendet.

Erst vor wenigen Minuten hat der Klinikdirektor Dr. Schlomo Mor-Jossef erklärt, der israelische Premierminister Ariel Scharon, der sich in einem künstlichen Koma befindet, werde nun zum dritten Mal operiert. Eine neue Blutung im Gehirn sei festgestellt worden. Die Genesung des Patienten könne sich über Tage hinziehen.

Am Donnerstag hatten Scharons Pupillen noch auf Lichteinfall reagiert. Der aus Argentinien stammende Chirurg Felix Umansky hatte zuvor gegenüber einem spanischen Radiosender erklärt, frühestens Ende dieser Woche ließe sich konkret feststellen, welchen Schaden der massive Schlaganfall angerichtet habe.

Um den Pulk der Reporter aus aller Welt haben sich Dutzende von Israelis geschart. Manche tragen eine Kippa und murmeln leise Gebetssprüche, manche stehen in kleinen Gruppen und unterhalten sich leise. Die meisten aber warten. Es ist das vergebliche Warten auf gute Nachrichten. Meirav Zahavi steht gleich hinter dem Kameramann von CNN, ihre Augen sind rotgerändert. "Ich habe zwei Nächte schon nicht mehr geschlafen", sagt die Krankenschwester aus dem Hadassah-Krankenhaus. Tagsüber arbeitet sie auf der Kinderstation, an den Abenden steht sie vor dem Eingang. "Es ist eine Katastrophe", sagt sie, "was sollen wir ohne Scharon machen? Ohne ihn wird nichts mehr funktionieren."

Das ganze Land betet für den Regierungschef

Auf den ersten Blick ist die Anteilnahme von Meirav Zahavi ungewöhnlich: Bei der letzten Wahl hatte sie noch der sozialliberalen Arbeitspartei ihre Stimme gegeben. Doch Scharons Wandlung vom "Bulldozer" und kompromisslosen Gegner eines Palästinenserstaates zum Auflöser jüdischer Siedlungen hat ihm die Zuneigung auch einst politischer Feinde verschafft. Meirav Zahavi nimmt einen Schluck Tee aus ihrer Thermoskanne und sagt: "Ich werde für ihn beten."

Seitdem Scharon das Bewusstsein verloren hat, betet das ganze Land für den 77 Jahre alten Regierungschef. Fraktionenübergreifend. Auch auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv, wo vor zehn Jahren Premierminister Itzchak Rabin von einem jüdischen Fanatiker ermordet worden war, haben sich Jugendliche zu einer Mahnwache zusammengefunden. Sie beten und halten ein Plakat hoch, auf dem sie Scharon gute Besserung wünschen. Der 16 Jahre alte Dror Jaron zum Beispiel ist am Donnerstagnachmittag nach der Schule zusammen mit seinem Freund Jariv zum Rabin-Platz gelaufen. Im Radio hatten sie von der Open-Air-Mahnwache gehört. "Eigentlich interessiert mich Politik nicht", sagt Dror, "aber wir wollen nicht, dass Scharon stirbt. Er ist ein guter Politiker." Er habe "unsere Soldaten" aus dem Gaza-Streifen geholt, sagt Dror Jaron.

Es ist vermutlich Scharons größtes Verdienst, dass man ihn in Israel (und in der nicht-arabischen Welt) für den Gaza-Rückzug in Erinnerung behält - und nicht für seine Kriege und den Libanon-Einmarsch 1982. Die Wandlung Scharons vom Siedlervater zum Friedensstifter, der vor drei Jahren erstmals von der Notwendigkeit eines Palästinenserstaates geredet hatte, rechnen ihm die Israelis hoch an. Auch außerhalb Jerusalems ist eine bedrückende Atmosphäre zu spüren. Sogar die Bewohner der stets quirligen Mittelmeer-Metropole Tel Aviv haben einen Gang zurückgeschaltet. Viele Menschen vergleichen die Atmosphäre mit Rabins Tod vor zehn Jahren. Niemand rechnet mit einer Rückkehr Scharons in die aktive Politik.

Das politische Vakuum, das Scharon mit seinem plötzlichen Ausscheiden verursacht hat, hat auch zu einer Pause im Wahlkampf geführt. Likud-Chef Benjamin Netanjahu, der alle Likud-Minister an diesem Sonntag eigentlich aus der Regierung abziehen wollte, hat diesen Schritt nun ausgesetzt. "Wir beten und hoffen auf Scharons Genesung", ließ sein Sprecher verlauten.

Obwohl es keine offiziellen Bulletins über die Auswirkungen des Schlaganfalls gibt, befindet sich das Land im Schock. Die Menschen sprechen in Vergangenheitsform von ihm, in den Zeitungen werden seitenlange Rückblicke auf Scharons Leben veröffentlicht, Fotos zeigen ihn als Krieger, als Farmer, als Premierminister. Bilder seiner zwei Frauen werden gedruckt, die beide verstorben sind, sowie ein Zitat seines ältesten Sohnes Gilad mit großem Ausrufezeichen: "Ich weiß, dass mein Vater den Schlaganfall überleben und wieder ganz gesund sein wird."

Die Journalisten in Israel suchen aber auch nach Erklärungen dafür, weshalb der Transport Scharons in das Hadassah-Krankenhaus fast zwei Stunden in Anspruch genommen hat. Und ob die Therapie nach dem ersten Schlaganfall am 18. Dezember mit blutverdünnenden Medikamenten nicht womöglich den erneuten schweren Gehirnschlag mit verursacht habe.

Mitarbeiter aus Scharons Büro erzählen, er sei am Mittwochnachmittag müde und ein wenig fahrig gewesen. Womöglich hatte er Angst gehabt vor der für Donnerstag angesetzten Operation, bei der ihm ein kleines Loch im Herzen zugenäht werden sollte. Auf eigenen Wunsch habe er die Stunden vor dem Eingriff auf seiner Farm im Süden des Landes verbringen wollen, wo er zusammen mit Gilads Familie lebt.

Keine Anzeichen für Rückkehr in die Politik

Am frühen Abend habe er über Unwohlsein geklagt, woraufhin sein Leibarzt den Transport in ein nahe gelegenes Krankenhaus in Beer Schewa angeordnet habe. Auf dem Weg dorthin habe sich Scharons Zustand jedoch drastisch verschlechtert, weshalb sein Arzt eine Einlieferung ins Jerusalemer Krankenhaus anordnete. Unterwegs verlor Scharon das Bewusstsein und musste künstlich beatmet werden. In Israel fragt man sich nun, weshalb Scharon nicht mit dem Hubschrauber, der ständig neben seiner Farm stationiert ist, in das Krankenhaus gebracht wurde.

Aus Scharons Umgebung heißt es, er habe zwar nach dem ersten Schlaganfall seinen Appetit gezügelt, aber dennoch mit fast unverändertem Tempo weitergearbeitet. Wenige Stunden vor dem zweiten Schlaganfall hatten Scharon zudem Schlagzeilen zugesetzt, dass er von einem österreichischen Geschäftsmann drei Millionen US-Dollar an Schmiergeldern angenommen haben soll.

Die Regierungsgeschäfte führt nun Ehud Olmert, Scharons Stellvertreter und Freund. In einer düsteren Kabinettssitzung, in der alle Minister in schwarzer Kleidung erschienen waren, verkündete Olmert in knappen Sätzen, dass Israel sich in einer schwierigen Lage befinde. Eine, "die wir nicht gewohnt sind, die wir aber meistern werden." Der voraussichtliche Nachfolger Scharons als Parteivorsitzender von "Kadima" bat das Volk, für Scharon zu beten. Dann nahm er einen Schluck Wasser, hielt inne, schaute zur Seite: auf den überdimensionalen Sessel zu seiner Linken, der eigens für Scharon angefertigt worden war. Er war unbesetzt. Auch am Freitag sprach alles dagegen, dass Scharon je wieder auf diesem Sessel Platz nehmen würde.

© SZ vom 6./7. Januar 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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