Polen:Dampfwolke des Absurden

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Das ehemalige Musterland der EU-Osterweiterung kehrt in eine europäische Randlage zurück und wird zur Einparteienoligarichie. Grund ist auch der rasante zivilisatorische Sprung des letzten Vierteljahrhunderts.

Von Jarosław Kurski(Gazeta Wyborcza)

Als vor 60 Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, verloren die hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrten Polen ihre Illusionen über den "Kommunismus mit menschlichem Antlitz". Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands verloren sie auch die Hoffnung. Osteuropa versank im Realsozialismus. Der Osten lebte mit dem Gefühl, vom Westen verlassen zu sein. Niemand konnte die Rolle des polnischen Papstes Johannes Paul II. ahnen, die des Werftarbeiters Lech Wałęsa, die Bewegung "Solidarność", die von Gorbatschow ausgelöste Kettenreaktion, die deutsche Wiedervereinigung, und auch nicht den EU-Beitritt der Länder Mittelosteuropas, darunter Polens.

Seit 2004 hat Polen als EU-Mitglied alle Vorurteile widerlegt. Das Land hat am besten die Brüsseler Fonds und Förderprogramme genutzt, es hatte das größte Wachstum, passte sein Rechtssystem an, garantierte die Bürgerrechte und war durch und durch proeuropäisch. Polen war ein Musterschüler. In Brüssel wurden nun keine wichtigen Entscheidungen mehr ohne Warschau getroffen.

Doch Polen kehrt in Europa in eine Randlage zurück. Es reicht der Sieg einer antidemokratischen, nationalistischen, ultrakonservativen, populistischen und euroskeptischen Partei. Auch Polen wurde von der Welle getroffen, die fast alle europäischen Länder erfasst hat: Der zivilisatorische Sprung des letzten Vierteljahrhunderts hat in den Polen immer größere Ansprüche geweckt und das Verlangen nach einer gerechteren Verteilung des nationalen Einkommens.

Dieses Aufbegehren der Massen, verstärkt durch "postfaktische Wahrheiten", führte dazu, dass die Menschen, die Anteil an der größten Modernisierung des Landes haben, der Parole glaubten, dass "Polen in Ruinen liegt" und sich endlich "von den Knien erheben" müsse. So wurde eine Partei gewählt, die "500 Zloty pro Kind" versprach, etwa 115 Euro.

In Polen vollzieht sich eine nationale Revolution, die auf der "Neuverteilung von Ansehen und Würde" beruht, wie es Max Weber nannte. Die bisherige Elite wird ausgekehrt, und die Regierungspartei Pis zeigt ein zynisches, rein merkantiles Interesse an der EU. Für sie handelt es sich um eine Gemeinschaft der Geldbörsen, nicht eine Wertegemeinschaft. Wir nehmen euer Geld, aber wir verwerfen eure demokratischen Grundsätze.

Die Regierung zeigt ein rein merkantiles Interesse an der EU

Im Namen des "Souveräns", wie sie behauptet, baut die Regierungspartei das System um zu einer Einparteienoligarchie unter Jarosław Kaczyński, um den eine Art Personenkult betrieben wird. Die Regierungspartei macht die Gewaltenteilung zunichte, zerstört Kontrollinstanzen wie das Verfassungsgericht, das Oberste Gericht, die Nichtregierungsorganisationen. Die Rechte der parlamentarischen Opposition tritt sie mit Füßen. Propagandisten der Regierung haben die öffentlich-rechtlichen Medien übernommen. Seit einem Jahr veröffentlicht das Kabinett keine Urteile des Verfassungsgerichts, obwohl es dazu verpflichtet ist. Stattdessen wurden acht Gesetzesnovellen durchgedrückt, die das bis dahin unabhängige Gericht der Herrschaft Kaczyńskis unterwerfen sollen.

Polen versinkt immer mehr in einer Dampfwolke des Absurden. Obwohl die EU-Kommission gegen Polen das Verfahren zur Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet hat, kann die Pis auf die Zusicherung Viktor Orbáns bauen, dass er sein Veto gegen den Antrag einlegen werde, Polens Rechte als Mitglied des Europäischen Rates auszusetzen. Denn dafür ist Einstimmigkeit erforderlich. Die Pis kann sich also ungestraft so verhalten.

Die im freiheitlichen Geist der Solidarność aufgewachsenen polnischen Demokraten verfolgen mit Entsetzen, wie die Pis-Regierung ihr Land aus der Gemeinschaft der demokratischen Nationen führt und das in 27 Jahren der Transformation Erreichte zugrunde richtet. Bronisław Geremek, einer der Gründerväter des demokratischen Polens, der am 6. März 85 Jahre alt geworden wäre, dreht sich heute im Grabe herum.

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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