Parlamentswahlen in Frankreich:Stimme der Banlieues

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Er vertritt keine Partei, gründet ein "Krisenministerium" und will die "Stimme der Banlieues" werden: Der Sozialarbeiter Mohamed Mechmache kämpft um einen Sitz im französischen Parlament. Auch, weil er neue Unruhen fürchtet - wenn der neue Präsident Hollande die Banlieues so enttäuscht wie sein Vorgänger Sarkozy.

Stefan Ulrich, Paris

Ein Hauch von Orient liegt über dem Wochenmarkt von Clichy-sous-Bois. Die Luft duftet nach grünem Tee und Pfefferminzblättern. Händler preisen ihre Gewürze, Gewänder und Koranbücher an. Frauen mit Kopftuch und prall gefüllten Einkaufstaschen schieben sich zwischen den Ständen hindurch. Menschen aus mehr als 70 Herkunftsländern leben in dieser Banlieue östlich von Paris. Auch Mohamed Mechmache ist hier zu Hause. Er begrüßt die einen mit "Bonjour", die anderen mit "Salam", küsst Dutzende Wangen und steckt jedem, der sich nicht schnell verdrückt, sein Flugblatt zu. "Wenn ihr für mich stimmt, werde ich eure Rechte und eure Würde verteidigen", steht darauf.

Vor sieben Jahren brannten in Frankreich die Vorstädte - der Verein "ACleFeu" versucht, den Hass zu bekämpfen. (Foto: picture-alliance/ dpa)

Es ist wieder Wahlkampf in Frankreich. An den kommenden beiden Sonntagen werden die Franzosen eine neue Nationalversammlung bestimmen. Mechmache tritt als unabhängiger linker Kandidat an. Der 46 Jahre alte Sozialarbeiter möchte keine Partei vertreten, sondern nur seine Wähler. So will er zur "Stimme der Banlieues" werden, der von Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Vernachlässigung geprägten Trabantenviertel. "Auch wir sind Frankreich", sagt er. "Wir sind ordentliche Leute und verdienen Respekt wie alle anderen auch."

Clichy-sous-Bois hat einen Ruf zu gewinnen. Bisher steht die 30.000-Einwohner-Stadt eher für Gewalt. Im Oktober 2005 kamen hier zwei Jugendliche ums Leben, als sie sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatoren-Häuschen versteckten. Ihr Tod löste wochenlange Krawalle im ganzen Land aus. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand. Die Bilanz der Unruhen: Mehr als 10.000 verbrannte Autos, etliche verwüstete Schulen und eine verstörte Nation.

"Schluss mit dem Feuer"

In jenen Nächten des Feuers war Mechmache im Einsatz, um die Gewalt zu dämpfen. Als alles vorbei war, gründete der Sohn algerischer Einwanderer den Verein "ACleFeu". Das Kürzel spricht sich "assez le feu" aus und bedeutet: "Schluss mit dem Feuer". Nie wieder sollten die Banlieues im Hass versinken. "Wer seine eigenen Schulen und Bibliotheken anzündet, erniedrigt doch sich selbst", sagt Mechmache, während er über den Markt streift. Die Jugendlichen sollten lieber wählen gehen, sich engagieren. Dafür kämpfe ACleFeu. "Die Politik ist nicht nur für die Eliten da. Auch wir können etwas bewegen."

Seit 2005 reisen Mechmache und seine Mitstreiter regelmäßig durch die Trabantenstädte des Landes, um Sorgen und Wünsche aufzunehmen. Sie stellen - wie zu Zeiten der französischen Revolution - "Beschwerde-Hefte" zusammen und leiten daraus Forderungen an die Politiker ab. Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 besetzte ACleFeu sogar ein leer stehendes Palais im trendigen Pariser Marais-Viertel und erklärte es zum "Krisenministerium der Banlieues". Mehrere Kandidaten kamen vorbei, darunter der spätere Sieger François Hollande. Er versprach, sich der Sorgen der Vorstädte anzunehmen.

Die Wahl Hollandes hat uns alle optimistischer gemacht", sagt auf dem Markt Mokded Hannachi, ein 35 Jahre alter Angestellter. "Doch Hollande hat nicht wirklich die Macht, etwas zu verändern. Die wahre Macht hat die Wirtschaft." Dabei sei die Arbeitslosigkeit in den Banlieues nur ein Teil des Problems. Noch schlimmer sei die Isolation. "Wir haben zu wenig Kinos, Vereine und Clubs für die Jungen", sagt Hannachi. "Wir brauchen eine bessere Straßenbeleuchtung, damit die Leute nachts sicher nach Hause kommen. Und wir wollen schneller nach Paris kommen." Derzeit dauere es nachts mit öffentlichen Verkehrsmitteln eineinhalb Stunden in die Metropole, obwohl diese nur etwa 20 Kilometer entfernt sei. "Da bleiben die Menschen lieber zu Hause und kapseln sich ab." So entstünden Ghettos und ein gefährlicher Frust.

Hat Frankreich keine Lehren aus den Unruhen des Jahres 2005 gezogen? Immerhin kündigte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy an, die Banlieues mit dem "Kärcher" vom "Gesindel" zu säubern. Im Präsidentschaftswahlkampf 2007 versprach er einen "Marshallplan" für die Vorstädte.

Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren viele verwahrloste Sozialwohnblocks saniert oder abgerissen und durch kleinere Häuser ersetzt. Um den Markt von Clichy-sous-Bois herum stehen heute etliche sanierte Hochhäuser mit freundlich wirkenden Fassaden. "Diese Renovierungen waren dringend nötig", räumt Mechmache ein. "Doch der Staat hat mehr in Gebäude als in Menschen investiert." Die Banlieues bräuchten vor allem Jobs, bessere Schulen, eine gute Gesundheitsversorgung und mehr Kulturangebote. Da habe sich seit 2005 viel zu wenig getan.

Nach sieben Jahren "Kärcher" und "Marshall-Plan" leben in Frankreich heute viereinhalb Millionen Menschen in Vorstädten, die als "sensible urbane Zonen" gelten. Dort sind 21 Prozent der Menschen ohne Job, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 42 Prozent. In manchen Blocks von Clichy-sous-Bois leben neun von zehn Einwohnern unter der Armutsgrenze. Tuberkulose breitet sich wieder aus. Und auch dort, wo saniert wurde, ist es kaum zur erwünschten sozialen Mischung gekommen, zum Zusammenleben von Armen und Wohlhabenden, Einwanderern und Ursprungsfranzosen. Nun setzt die oft enttäuschte Banlieue auf Hollande. Bei der Stichwahl am 6. Mai stimmten in Clichy-sous-Bois 72 Prozent für den Sozialisten, auch Mechmache.

Was den Sozialarbeiter noch mehr freute: Die Wahlbeteiligung lag bei mehr als 73 Prozent, obwohl die Menschen in den Banlieues sonst oft den Urnengang verweigern. Mechmache führt die Beteiligung auf die Arbeit von ACleFeu zurück. Bei den Reisen durch die Vorstädte will er überall "eine neue Dynamik" ausgemacht haben. "Die Leute ändern ihre Einstellung. Sie interessieren sich mehr für Politik."

"Frankreich ist bunt - Assemblée Nationale nicht"

Nun hofft Mechmache, am Sonntag in die Nationalversammlung gewählt zu werden und ein Zeichen zu setzen. Noch sei das Parlament von weißen, älteren Männern dominiert, die in den gleichen guten Vierteln aufgewachsen seien und die gleichen elitären Hochschulen besucht hätten. Sarkozy habe vor der Gefahr von Parallelgesellschaften gewarnt und auf die Banlieues gedeutet. Dabei hätte er auf die Nationalversammlung zeigen müssen, findet Mechmache. "Das heutige Frankreich ist bunt. Die Assemblée Nationale ist es nicht."

Der Kandidat bedauert, die Republik akzeptiere nicht alle ihre Kinder. So werde er dauernd nach seiner muslimischen Religion gefragt. Christen passiere das nicht. Dabei hätten seine algerischen Vorfahren für Frankreich gekämpft; einige seien dafür gestorben. Er selbst sei Muslim, aber das sei Privatsache. "Ich bin vor allem Franzose. Nicht teilweise, sondern ganz." Mechmache fürchtet: Wenn nach Sarkozy auch Hollande die Banlieues enttäusche, könnten die Unruhen wieder ausbrechen - noch heftiger als 2005.

Während er darüber sinniert, schüttelt ihm ein alter Mann die Hand. "Ça va?", fragt der Kandidat heute wohl zum hundertsten Mal. "Ça ne va pas", antwortet der Alte. "Wie sollte es gut gehen, bei all den Problemen, die wir haben?" Als Mechmache weitergeht, flüstert der Alte: "Wir brauchen Geld - und das hat der auch nicht." Ein paar Schritte weiter diskutiert der Kandidat mit einem aus Marokko stammenden Kleiderhändler, der sich als Abdullah vorstellt. Falls Mechmache ins Parlament gewählt wird, was erwartet sich der Händler von ihm? "Eine Million Euro", sagt Abdullah. "Dann kaufe ich den ganzen Markt." Die Banlieue hat den Humor noch nicht verloren.

© SZ vom 08.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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