Palästinenser-Gebiete:Türme im Nirgendwo

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Schöne neue Welt: 40 000 Menschen sollen einmal in Rawabi leben. Noch aber gibt es hier mehr Bauarbeiter als Bewohner. (Foto: Jim Hollander/dpa)

In der Wüste des Westjordanlands entsteht Rawabi, eine nagelneue Stadt. Sie ist eine Antwort der Palästinenser auf den israelischen Siedlungsbau.

Von Peter Münch, Rawabi

"Sensoren", sagt Fadi Salamih und lehnt sich beim Einfahren in die Garage zufrieden zurück. Das Licht ist automatisch angegangen, so soll es sein. Nun steigt er aus dem Auto, zieht den Hausschlüssel hervor und erklärt: "Multi-Lock". Ein Schlüssel für alles, wie praktisch. Schnellen Schritts geht er die Treppe hinauf in den zweiten Stock, schließt die Wohnungstüre auf, der Geruch von frischer Farbe weht hinaus, und Narsin, die sechsjährige Tochter, stürmt hinein ins Glück. "Hier ist mein Zimmer", ruft sie, das ist für meinen Bruder, da schlafen die Eltern."

Familie Salamih aus Ramallah zieht um - und zwar nicht nur in eine neue Wohnung, sondern in eine nagelneue Stadt. Rawabi heißt sie, im felsigen Nirgendwo des Westjordanlands gelegen, 20 Autominuten von Ramallah entfernt. Rawabi heißt "Hügel", und auf diesem einstmals kahlen Hügel sind plötzlich Wohntürme in die Höhe gewachsen, die in ein paar Jahren 40 000 Menschen beherbergen sollen. Büros und Cafés, Schulen und Krankenhäuser, eine Moschee und eine Kirche - all das gehört zur schönen neuen Welt von Rawabi. "Grün" soll die Stadt sein und "smart", geworben wird mit "High-Speed-Internet" und einer "Weltklasse-Infrastruktur". Noch gibt es hier zwar weit mehr Bauarbeiter als Bewohner. Aber wer jetzt einzieht, darf sich als palästinensischer Pionier fühlen. "Ich bin stolz, einer der ersten Bewohner von Rawabi zu sein", sagt Fadi Salamih.

Dieser Stolz wird gründlich zelebriert: Zehn palästinensische Fahnen wehen auf dem höchsten Punkt des Hügels, eine davon ist so groß, dass sie ganz gewiss auch in Ateret nicht übersehen werden kann, in der jüdischen Siedlung auf der Kuppe gegenüber. Denn natürlich ist Rawabi auch eine Antwort auf den israelischen Siedlungsbau im besetzten Westjordanland - als Gegenentwurf und architektonische Kopie. Die neue palästinensische Stadt soll ein Vorgeschmack sein auf den künftigen palästinensischen Staat. Denn wer eine Stadt bauen kann, dem ist auch "nation building" zuzutrauen.

Der Weg allerdings ist lang und ziemlich schmutzig. Jedenfalls hängen dicke Lehmklumpen an den Schuhen von Baschar Masri, der von seinem Containerbüro aus die Baufortschritte überwacht. Er ist der Stadtgründer, Rawabi ist sein Traum - und immer wieder auch ein Albtraum. Mehr als eine Milliarde Euro hat er bereits in dieses Projekt gesteckt. Das meiste Geld stammt aus Katar, doch ungefähr ein Drittel hat der 54-Jährige als einer der reichsten Unternehmer des Landes selber aufgebracht. Aufrecht sitzt er auf seinem Bürostuhl, vor sich das Mittagessen aus Gurken, Möhren und Salatblättern. "Aufregende Zeiten sind das", sagt er. "Aber was kann es Erfüllenderes geben, als Kinder in Rawabi spielen zu sehen?" Jeden Tag ziehe jetzt eine neue Familie ein, "650 Wohnungen sind fertig, verkauft haben wir mehr als 700." Er schwärmt davon, wie ihn die Neuankömmlinge zum Kaffee einladen. Er bekennt, dass sie Klagen haben, weil das Internet klemmt oder der TV-Anschluss nicht funktioniert. Aber mit Klagen und Widrigkeiten hat er wohl zu leben gelernt in den fünf Jahren seit Baubeginn.

"Es gibt signifikante Verzögerungen", räumt er ein, "aber jetzt arbeiten wir wieder mit voller Geschwindigkeit."

Die Verzögerungen lastet er zum Großteil Israel an. "Wir leben unter Besatzung, und darüber gibt es nichts Gutes zu sagen, es ist eine Schande", meint er. Tausend Streitigkeiten gab es auszufechten, die Siedler protestierten und blockierten, aber nichts war so schlimm wie der Kampf ums Wasser.

Ohne Anschluss an das israelische Leitungsnetz sitzt Rawabi auf dem Trockenen. Doch mit der Genehmigung ließen sich die Behörden viel Zeit. Sogar Israels Präsident Reuven Rivlin schaltete sich ein. Das Bauvorhaben sei doch "im Interesse Israels", mahnte er, weil jeder wirtschaftliche Fortschritt in den Palästinensergebieten mehr Stabilität und Ruhe bringe.

Doch genehmigt wurde die Wasserzufuhr nach langem Ringen erst, als Premierminister Benjamin Netanjahu in diesem Frühjahr vor einer heiklen USA-Reise ein Zeichen des guten Willens aussenden musste. "Diese Verzögerung hat uns mehr als hundert Millionen Dollar gekostet", sagt Masri.

Israelischer Widerstand war zu erwarten. Überraschender dagegen ist manche Reaktion aus dem palästinensischen Lager. Für das privat finanzierte Bauprojekt gibt es wenig Rückenwind aus Ramallah. Als vorsichtiger Mensch lobt Baschar Masri zwar die "politische und moralische Unterstützung" durch die Autonomiebehörde. Fragt man ihn jedoch nach finanzieller Hilfe, dann hebt er die Schultern und sagt: "null". Kein Geld für Schulen, das Krankenhaus oder die Polizeistation - und dann noch der Ärger mit der palästinensischen Boykottbewegung gegen Israel.

Die warf Masri vor, mit den Besatzern zu kollaborieren. Das bringt selbst einen so diplomatischen Mann wie ihn in Rage. "Wer glaubt, dass man in Palästina auch nur ein Haus bauen kann ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit, der lebt auf einem anderen Planeten", schimpft er.

Der Bauherr ist derart in die Mühlen der Politik geraten, dass ihm nach Feiern nicht zumute ist

Dabei will er mit Rawabi in diesem ewig rückwärtsgewandten Konflikt endlich einmal ein Zeichen für die Zukunft setzen. "Wir zeigen den Israelis und der Welt, dass es uns nicht um Zerstörung, sondern um Aufbau geht", sagt Masri. Doch dann ist er dermaßen in die Mühlen der Politik geraten, dass ihm nun nicht einmal mehr nach einem Eröffnungsfest zumute ist. Kein Band wird durchschnitten, keine Party gefeiert zum Einzug der ersten Familien. Aber vielleicht ist dafür einfach auch noch zu viel zu tun.

Denn die Bewohner müssen sich bis auf Weiteres in einer Großbaustelle einrichten. Noch gibt es keine Läden und keine Schulen. Doch Fadi Salamih und seine Familie lassen sich davon nicht abschrecken. Er arbeitet als Lehrer in Ramallah, und die Kinder kann er morgens mitnehmen in die Schule. "Ich weiß, dass die ersten zwei Jahre nicht leicht werden", sagt er, "aber so ist das Leben in Palästina, einfach ist es nie." Dafür aber freut er sich auf die Aussichten: "Schön und ruhig" werde das Leben in Rawabi sein. "Das ist der beste Platz für die Zukunft meiner Kinder." Obendrein liegen die Preise in Rawabi weit unter denen von Ramallah. Knapp 75 000 Euro hat er bezahlt für eine Vier-Zimmer-Wohnung mit 135 Quadratmetern, voll finanziert von der Bank. "Zwei Freunde habe ich auch schon überzeugt, mit ihren Familien hierher zu ziehen", erzählt er. "Und auch meine Eltern würden sofort kommen, wenn sie das Geld hätten."

Noch allerdings ist es ruhig in ihrem Haus in der Alsuwan-Straße 10, es gibt kaum Nachbarn, die aufgeregten Rufe der Tochter hallen durch die leeren Räume. Heute noch sollen die ersten Möbel kommen, und Narsin kann es kaum erwarten, ihr Zimmer zu beziehen. Doch in der leeren Wohnung wird es dann doch schnell langweilig, sie will raus auf die Straße. Der Spielplatz ist schon fertig.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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