Olympisches Feuer:China und die Moral

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Die olympische Flamme stiftet keine Harmonie, sondern Empörung und moralischen Widerstand. Peking schadet Tibet, der Welt und sich selbst mit einer irregeleiteten Realpolitik.

Stefan Kornelius

Fünf Elemente sind es, die den Krieg regeln, sagt der chinesische Stratege Sun Tzu. Das erste und wichtigste ist die Moral. Es ist das Gesetz der Moral, "das die Menschen veranlasst, stets das gleiche Ziel wie die Führung zu verfolgen, sodass sie vorbereitet sind, Leben und Tod zu teilen, sich nicht von Gefahren oder Widrigkeiten abschrecken lassen, sich mit der Führung zu identifizieren".

Das IOC und die chinesische Regierung hatten sehr bewusst einen Pakt beschlossen, dessen eigentlicher Gehalt erst jetzt offenkundig wird. (Foto: Foto: dpa)

Moral, das hat bei dem Superrealisten Sun Tzu eine allumfassende, philosophische Bedeutung. Moral bedeutet Einheit im Denken, Geschlossenheit, Überzeugung. Es ist die Harmonie, der Grundgedanke des Taoismus, die letztendlich Stärke verleiht und Frieden stiftet.

Auf seiner "Reise der Harmonie" sollte das olympische Feuer eben dies tun: Frieden stiften und ein Gefühl der Geschlossenheit erzeugen, auf dass die große Feier im Sommer zum Fest der Harmonie würde. Wer auch immer sich diese taoistische Überhöhung des abendländischen Olympia-Rituals ausgedacht hat - er ignorierte die Ratschläge von Sun Tzu.

Eine Flamme kann keine Harmonie stiften, wenn die moralische Gefolgschaft fehlt, wenn im Gegenteil so viel Empörung und moralischer Widerstand existieren. Die "Reise der Harmonie" wird so zum Horrortrip, zu einer endlosen Anklage von Ungerechtigkeit, Scheinheiligkeit und Widerspruch.

Jede Überraschung über diesen Konflikt ist geheuchelt. Als das Internationale Olympische Komitee am 13. Juli 2001 um genau 16.09 Uhr in der Person seines hochumstrittenen, greisen Präsidenten Juan Antonio Samaranch Peking als Austragungsort der Sommerspiele 2008 benannte, dauerte es keine Sekunden, ehe die Nachrichtenagenturen den Widerspruch zwischen olympischen Idealen und der politischen Situation in China thematisierten. Dann aber wandte sich die Welt dem Terror zu, den Kriegen, den drängenderen Problemen.

Ein faustischer Pakt

Das IOC und die chinesische Regierung hatten sehr bewusst einen Pakt beschlossen, dessen eigentlicher Gehalt erst jetzt offenkundig wird: Das Großereignis Olympia, das Fest der Völkerverständigung - und die Geburt einer Großmacht, der Wiedereintritt Chinas in den Klub der Erdenlenker sollten vermählt werden. Zwei Weltereignisse verschmolzen miteinander, um eine neue, nachdrückliche Formel von Größe, Macht und Geltungssucht zu erzeugen.

Vielleicht wird erst jetzt so manchem olympischen Amtsträger klar, wer in diesem Pakt wen benutzt. Der IOC-Funktionärskader ächzt, weil die wahre Natur des unfreien und autoritären IOC im Tibet-Konflikt en passant mit bloßgestellt wird. Aber tatsächlich ist Olympia nur ein Vehikel für chinesische Ambitionen. Dies ist eine chinesische Inszenierung, möglicherweise geplant in bester Absicht und mit größter Hoffnung - aber ohne Sun Tzus wichtigstes Gebot zu beachten.

Es brauchte eine Gegenbewegung von herausragender moralischer Kraft, die den Schlüsselkonflikt dieser Sommeraufführung wieder in den Mittelpunkt rücken würde. Die Bewegung der Exil-Tibeter in all ihrer Undurchschaubarkeit war die richtige Gruppe dafür. Mit ihrem geistlichen Führer, dem Dalai Lama, der simplen Botschaft der Gewaltlosigkeit und der nachvollziehbaren Forderung nach kultureller Freiheit ist sie mehr als eine spirituelle Sammelbewegung, der sich die Sinnsucher des Westens so nahe fühlen.

Die weltweit verstreuten Exil-Tibeter stehen für einen klassischen und sehr konkreten Minderheitenkonflikt, den das große China etwa vierzig Mal in seinen Landesgrenzen kennt.

Die tibetische Bewegung ist kein Hort der Demokratie. In ihren Reihen finden sich Vernünftige und Unvernünftige, Gewaltbereite und Friedfertige. Sie erfreut sich dennoch moralischer Autorität, eben weil sie Politik und Spiritualität geschickt verbindet, weil sie so eindeutig ohnmächtig ist gegenüber der Zentralmacht aus Peking. Wenn 200 deutsche Rathäuser Tibet-Fahnen aufziehen, dann ist das nicht dem außenpolitischen Sachverstand der Bürgermeister geschuldet, sondern der Stimmung der Wählermehrheit. Sun Tzu hätte seine Freude daran.

Die Gesetze der Realisten

Der Stratege war - man sollte sich nicht irren - kein Moralist. Im Gegenteil: In seinem realistischen Gespür für die Macht stellte er lediglich fest, dass man den Faktor Moral auf der Rechnung haben muss. 500 v. Chr. war Sun Tzu damit modern, heute ist er geradezu ein Seher. Der Faktor Moral in der Außenpolitik ist zentral, gerade für demokratische und freie Staaten.

Moralische Kategorien leiten den Westen in seiner Ablehnung von Diktatoren und Autokraten. Sie sind, siehe George W. Bush, Grundlage neuer Doktrinen, die Invasionen fremder Länder rechtfertigen, um Demokratie und Menschenrechte zu sichern. Sie sind Treibsatz der Empörung gegen Rohstoffautokraten wie Wladimir Putin und gegen Finanzhasardeure wie die Hedge-Fonds-Manager.

Moral ist in der globalisierten Welt ein grenzüberschreitendes Druckmittel der Politik geworden - der demokratischen Politik wohlgemerkt, die an Glaubwürdigkeit gewinnt mit ihrer Empörung über Unfreiheit und Ungerechtigkeit.

Aber: Hilft Moral am Ende wirklich? Sind nicht die Gesetze der Realisten stärker, wie sie von Thukydides, Machiavelli, Hobbes bis hin zu Kissinger ausbuchstabiert wurden? Dieser Zweikampf zwischen Idealisten und Realisten beherrscht die Außenpolitik, seitdem es Staaten gibt.

Waren es am Ende nicht immer die Staaten, die sich des Eingriffs von außen erwehren konnten und jeden moralischen Übergriff verhinderten mit dem Verweis auf Sicherheit, Macht und Fortbestand? Gilt nicht immer noch: Erst das Fressen, dann die Moral? Gerät nicht jeder auf die schiefe Ebene, der Moral einfordert und selbst nicht danach lebt - siehe George W. Bush und Abu Ghraib?

Die Gesetze der Realisten sind nach wie vor wirkmächtig, Chinas Reaktion auf die Flammen-Parade zeigt dies. Das chinesische System ist abgeschottet, die Stabilität im Land geht über alles. Niemand kann ermessen, was eine neue Tibet-Politik auslösen würde in diesem gewaltigen Reich, das sich allemal zu schnell und zu unkontrolliert verändert, dessen soziale Stabilität längst aus dem Gleichgewicht geraten ist und dessen politisches System zum Anachronismus wird, je stärker das Bruttosozialprodukt wächst. Wohlstand, Individualität und Freiheit vertragen sich nun mal nicht mit einer hyperkapitalistischen Autokratie.

Die moralische Empörung über Tibet - eigentlich über die innere Unfreiheit in China - hat einen hohen Wert. Selbst wenn China keine unmittelbaren Zugeständnisse macht, selbst wenn der eiserne Griff nicht gelockert wird, so ist zumindest das Idealbild der neugeborenen, olympisch-edlen Großmacht zerstört.

Bilder und Inhalt passen nicht zueinander, die Inszenierung der Harmonie ist misslungen. Wer seinen Platz auf der Weltbühne reklamieren will, der muss vor allem glaubwürdig sein. Glaubwürdig sind weder das IOC noch China. Sie haben nicht verstanden, dass Moral eine echte olympische Disziplin ist.

© SZ vom 12.04.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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