Wäre da nur nicht diese Zahl: zehn. Zehn Tonnen Kohlendioxid verursacht Ute Harenkamp mit ihrem Flug, gerade ist sie für vier Wochen nach Neuseeland geflogen. Zwischen Frankfurt, Singapur und Auckland feuern die Turbinen der Maschine Schmutz in die Erdatmosphäre: etwa dreieinhalb Tonnen CO₂ und andere Gase, die dort zusammen wie zehn Tonnen Kohlendioxid wirken.
Harenkamp, 55, hat sich schon lange gefreut auf diese Reise, aber sie weiß auch, welch verheerende Wirkung Treibhausgase haben: Wie eine Wolke aus Glas umhüllen sie die Erdkugel, sie lassen Wärme von der Sonne zur Erde, aber die Wärme nicht mehr zurück ins All. Die Folge: Erderhitzung, Klimawandel, Umweltkatastrophen. Harenkamp hat sich daher entschieden, das Kohlendioxid zu kompensieren. 236 Euro zahlt sie der gemeinnützigen Klimaschutzorganisation Atmosfair, die das Geld wiederum in Klimaschutzprojekte investiert. So soll Kohlendioxid eingespart werden, um genau zu sein: exakt jene zehn Tonnen Kohlendioxid. Kommende Woche bei der UN-Klimakonferenz im polnischen Katowice soll es genau darum gehen: Wie lässt sich der Klimawandel stoppen? Welchen Beitrag können Regierungen leisten und jeder einzelne Bürger?
Kann Atmosfair dabei helfen? Kritiker haben die Kompensation als modernen Ablasshandel bezeichnet. Sogar Papst Franziskus prangerte Kompensationsangebote für Flugreisen als "Heuchelei" an. Treibe man die Logik auf die Spitze, sagte er, werde es eines Tages so weit kommen, dass Rüstungskonzerne Krankenhäuser für jene Kinder einrichteten, die ihren Bomben zum Opfer fielen. Hat er recht?
Solange ich kompensiere, kann ich so viel fliegen, wie ich will - das könnten manche denken
Dietrich Brockhagen ist der Gründer und Geschäftsführer von Atmosfair, aber was er sagt, klingt erst mal nicht nach Werbung in eigener Sache. Kompensation sei kein Allheilmittel, sagt er etwa. Oder: Kompensation mache nur Sinn, wenn es keine "zumutbare Alternative" zu dem Flug gebe, die weniger Kohlendioxid verursacht. Und: "Seriöse Anbieter verkaufen Kompensation immer nur als zweitbeste Lösung." Die beste: gar nicht fliegen.
Brockhagen glaubt, dass der Papst den Grundsatz seiner Organisation teilen würde, er lautet: vermeiden, reduzieren, kompensieren. Zuerst müsse man sich fragen, ob ein Flug vermeidbar ist - etwa durch Videokonferenzen. Oder eine Reise mit der Bahn. Brockhagen sagt: "Papst Franziskus fliegt ja auch durch die Welt. Er hat also auch diese Abwägung getroffen, fliegen oder nicht fliegen, und er hat die Wichtigkeit der Reise größer eingeschätzt als die Zumutung oder Belastung für die Atmosphäre, die damit einhergeht. Wenn man diese Entscheidung so trifft, ist Kompensation die beste Lösung, die man hat."
Trotzdem gibt es Einwände von Forschern, wenn auch vorsichtige. Marcel Hunecke zum Beispiel, Umweltpsychologe von der Fachhochschule Dortmund, bezeichnet Kompensation als "kleinen Schritt in die richtige Richtung eines ökologischen Problembewusstseins", aber er sagt auch: Wenn Menschen in einem bestimmten Bereich etwas für die Umwelt tun, dann seien sie in anderen Bereichen weniger motiviert. Man hat ja schon. Das psychologische Phänomen wird als "moralische Lizenzierung" bezeichnet. Vor allem bei Menschen mit einem wenig ausgeprägten Klimabewusstsein könnte der Irrglaube entstehen: Solange ich kompensiere, kann ich so viel fliegen, wie ich will.
Ein Forscherteam um den Wirtschaftswissenschaftler Andreas Ziegler von der Universität Kassel weist diese Sichtweise zurück. "Nach unseren Studien tragen Kompensationen effektiv zum Klimaschutz bei", sagt Ziegler. Dass Menschen wegen der Kompensation mehr fliegen, lasse sich nicht bestätigen. Im Gegenteil: Der Zusammenhang zwischen Kompensieren und anderen Umweltschutzmaßnahmen sei eher ein positiver. "Die These vom Ablasshandel ist nicht haltbar." Zieglers Ergebnisse beruhen auf repräsentativen Umfragen. Ein Drittel der Befragten habe angegeben, grundsätzlich bereit für Kompensationen zu sein. "Keine so kleine Zahl", sagt er. Das Problem allerdings: Der Mechanismus der Kompensation sei oft überhaupt nicht bekannt. Er appelliert deswegen an die Politik: "Wenn man das fördern will, wäre eine gezielte Informationskampagne sinnvoll." Atmosfair ist nur eine von mehreren Kompensationsagenturen. Klimakollekte, Myclimate oder Primaklima etwa sind ebenfalls gemeinnützig. Stiftung Warentest hat Atmosfair am besten bewertet, auch weil die Organisation transparent agiere. 2017 hat Atmosfair rund 300 000 Flüge kompensiert und sieben Millionen Euro für seine Projekte eingenommen.
Eine Frage bleibt offen: Welche Flüge sind eigentlich vermeidbar und welche nicht?
Wer seine Reise bei Atmosfair kompensieren will, kann die Flugdaten in einen Emissionsrechner eingeben. Gefüttert mit wissenschaftlichen und vom Umweltbundesamt geprüften Datensätzen und unter Berücksichtigung von Kriterien wie Flughöhe, Route und Auslastung des Flugzeugs berechnet dieser die Emissionen eines Fluges und den Preis für ihre Kompensation. Mit dem Geld stattet Atmosfair etwa in Ruanda oder Indien Haushalte mit energieeffizienten Öfen aus. Sie helfen, den hohen Verbrauch an Feuerholz zu reduzieren. Andere Projekte fördern Wind- und Wasserkraft in Nicaragua oder Südafrika, sie sind von unabhängigen Prüfern daraufhin getestet worden, ob sie einem Qualitätsstandard genügen, der im Kyoto-Protokoll der UN festgelegt wurde. Es ist der strengste Standard für Klimaschutzprojekte.
Atmosfair kompensiert neben Flügen auch Kreuzfahrten, nicht aber Produkte wie Fleisch oder die Nutzung von konventionellem Strom. Der Grund: Nur bei ersteren gibt es noch keine klimafreundliche Alternative, ihre Entwicklung aber ist absehbar. "Es ist heute schon möglich, klimaverträgliches Kerosin herzustellen", sagt Brockhagen. Noch ist das aber zu teuer.
Klar ist: Kompensation allein kann das Klima nicht retten. Damit die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden können, müssen Menschen weniger fliegen. Atmosfair macht das auf seiner Webseite deutlich. Eine Frage aber bleibt offen: Welche Flüge sind eigentlich vermeidbar und welche nicht? Für Ute Harenkamp ist Neuseeland ein Sehnsuchtsort. Einmal war sie schon dort, das Land fasziniert sie, sie wollte unbedingt noch einmal dorthin. Eine Schiffsreise kam nicht in Frage, also der Flug und die Kompensation. "Das schlechte Gewissen ist dadurch nicht weg", sagt sie. "Aber es wird ein bisschen gelindert."