NSU-Prozess:Mitglied der Familie

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Die Vertreter der Bundesanwaltschaft Herbert Diemer, Anette Greger und Jochen Weingarten (v.l.) haben am Donnerstag ihr Plädoyer fortgesetzt. (Foto: Andreas Gebert/Getty Images)

Die NSU-Ankläger sind sicher: Der mutmaßliche Unterstützer André E. "hat alles gewusst" und sei ein "Zuarbeiter des NSU" gewesen - "immer in Stellung, immer zur Stelle".

Von WIEBKE RAMm, München

André E. sitzt auf der Anklagebank und grinst. Manchmal versucht er, mit einer Hand vor dem Mund sein Lächeln zu verbergen. Der mutmaßliche Unterstützer des NSU steht am Donnerstag im Fokus der Ausführungen von Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten. Nach gut vier Wochen Pause im NSU-Prozess setzt die Bundesanwaltschaft ihr Plädoyer vor dem Oberlandesgericht München fort.

Nach Überzeugung der Ankläger war André E. der "Zuarbeiter des NSU" - "immer in Stellung, immer zur Stelle". Der Angeklagte sei eben nicht "der ahnungslose Mordgehilfe einer terroristischen Vereinigung" gewesen. Ganz im Gegenteil: "Er hat alles gewusst", sagt Weingarten. "André E. wusste genau, wem er hilft und was ihre verbrecherischen Absichten sind. Und er war aufgrund seiner eigenen rechtsextremistischen Einstellung damit einverstanden."

Im Prozess hat André E. geschwiegen. Auf seinem Bauch hat der 38-Jährige die Worte "Die, Jew, Die" tätowiert: Stirb, Jude, stirb. Er war enger Vertrauter von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft gehörte er quasi zur Familie.

André E., seine Frau und seine Kinder besuchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nach deren Untertauchen regelmäßig. E. versorgte sie mit Bahncards, mietete ihnen Wohnung, Auto und Wohnmobile an. Böhnhardt und Mundlos fuhren mit den Fahrzeugen nach Köln, um den Bombenanschlag in der Probsteigasse zu verüben, sie fuhren mit ihnen nach Chemnitz und Eisenach, um Banken zu überfallen.

Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt haben André E. nach Überzeugung der Ankläger früh eingeweiht und ihm mitgeteilt: "Wir sind entschlossen, Ausländer, vor allem Menschen türkischer Herkunft, zu ermorden." Weingarten nennt dies Plausibilitätsüberlegungen. André E. lacht kurz auf. Zschäpe macht sich Notizen.

In ihrer Einlassung hatte Zschäpe angegeben, E. habe erst nach 2007 gefragt, warum sie im Untergrund lebten. Erst dann soll er von den Überfällen, nicht aber von den Morden und Anschlägen erfahren haben. "Jetzt mal im Ernst", sagt Weingarten: "Man kann das nicht glauben. Man kann das nicht glauben, dass der Angeklagte E. von 1998 bis 2007, neun Jahre lang, neben Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos hertrottete, sie mit anderen Namen anspricht, keinen je arbeiten sieht, teils kostspielige Geschenke von ihnen erhält und nie, nie, nie fragt: ,Wovon lebt ihr eigentlich und warum im Untergrund?'" André E. grinst.

Über seinem Fernseher hat er den toten Mördern einen Schrein gebaut

Am 4. November 2011 erschossen sich Mundlos und Böhnhardt nach einem gescheiterten Bankraub, und Zschäpe ließ das Versteck in Zwickau in Flammen aufgehen. Es war E., den Zschäpe nach eigenen Angaben um Hilfe bei ihrer Flucht bat. Sie rief ihn an, er fuhr zu ihr und brachte sie zum Bahnhof. Es sei vollkommen lebensfremd, so Weingarten, dass André E. "alles stehen und liegen lässt und quer durch die Stadt fährt, ohne eingeweiht zu sein". Für die Bundesanwaltschaft steht fest: Er wusste von dem Banküberfall, er wusste auch, dass sich die Neonazis im Fall eines Scheitern selbst töten und ihre "Terrorzentrale" in Brand setzen werden.

Die Bundesanwaltschaft überrascht noch mit einem weiteren Detail. Bisher war es die Nebenklage, die mehrmals auf die Bedeutung der "Turner Tagebücher" hinwies, ein rechtsextremes Werk, das unheimliche Parallelen zur mörderischen Realität des NSU aufweist. Es liefert Anleitung für den bewaffneten Kampf in Kleinstgruppen, gibt Tipps für konspiratives Verhalten, selbst Fahrräder sind erwähnt. Es liest sich wie die Blaupause für den NSU. André E. hatte die "Turner Tagebücher" auf einer Festplatte gespeichert und die Datei nach dem Auffliegen des NSU gelöscht. Für die Ankläger ein deutliches Zeichen: Er wusste, was seine Freunde taten. Nach ihrem Tod hat er Mundlos und Böhnhardt einen Schrein gebaut. Gleich über dem Fernseher im Wohnzimmer hat er selbstgezeichnete Porträts von ihnen aufgehängt, darunter steht in altdeutscher Schrift: "Unvergessen". Die Bundesanwaltschaft wertet es als Geständnis.

Am Morgen hatten Demonstranten das Plädoyer kurz unterbrochen. Sie riefen die Namen der Bundesanwälte und warfen ihnen "institutionellen Rassismus" vor. Justizbeamte führten sie aus dem Saal.

© SZ vom 01.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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