Niederlande:"Unvorstellbarer Schock"

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Der Rechtsanwalt Derk Wiersum hatte den Kronzeugen in einem Prozess gegen kriminelle Banden verteidigt. Dass er am Mittwoch ermordert wurde, erschüttert den Glauben an die Macht des Rechtsstaats.

Von Thomas Kirchner, München

Die Niederlande sind am Mittwoch von einem Mord erschüttert worden, der auch politisch weitreichende Folgen haben dürfte. Derk Wiersum, Anwalt eines Kronzeugen im seit Jahren größten und wichtigsten Strafprozess gegen Bandenkriminelle, wurde am frühen Morgen vor seinem Haus im Süden von Amsterdam erschossen, der jugendliche Täter konnte zu Fuß flüchten.

Wiersum hatte einen Mann namens Nabil B. verteidigt, der sich entschlossen hatte, in einem Mordprozess als Kronzeuge auszusagen gegen eine Gruppe von Angeklagten um den meistgesuchten Kriminellen des Landes, Ridouan T. Im März 2018 wurde bereits der Bruder des Kronzeugen umgebracht, das geschah eine Woche, nachdem B. den Kronzeugendeal mit der Polizei geschlossen hatte. Der Bruder hatte nichts mit dem Verfahren zu tun, aber der Kronzeuge belastet die Bande um Ridouan T. mit 13 Morden und Mordversuchen. Der Mord an Wiersum rief Entsetzen hervor. "Das ist ein unvorstellbarer Schock", sagte die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema am Mittwoch. Man müsse den Anwaltsberuf "in Sicherheit" ausüben können. Strafverteidiger zu sein sei ein "sehr wichtiger Beruf in unserem Rechtsstaat". Ministerpräsident Mark Rutte sprach von einer "sehr beunruhigenden" Tat. Mit dem "brutalen Mord" sei eine "neue Grenze überschritten" worden, sagte Amsterdams Polizeichef Erik Akerbom. Die Unterwanderung des Landes durch Kriminelle müsse gestoppt werden: "Als Gesellschaft können wir das nicht akzeptieren." Wiersum erhielt mehrmals Todesdrohungen. Er bekam aber keinen Personenschutz und stand Medien zufolge kurz davor, sich privat Beschützer zu organisieren.

Besonders entsetzt reagierten Kollegen des Ermordeten. Einzelne veröffentlichten Bilder von sich, mit dem Konterfei des Ermordeten in der Hand. Einige schrieben dazu: "Ich bin Derk Wiersum, Strafrechtsanwalt" - in Erinnerung an die Solidaritätsaktionen "Je suis Charlie" nach dem Terroranschlag auf das Pariser Satireblatt Charlie Hebdo. Die Amsterdamer Anwaltsorganisation erwägt als Reaktion einen stillen Protestzug durch die Stadt, ähnlich den Demonstrationen nach dem Abschuss des Flugzeugs MH17 über der Ukraine.

Die Tat hat das Problem der schweren Bandenkriminalität und der Hilflosigkeit des Staates gegenüber extremer Gewalt im Milieu endgültig in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Seit fast zehn Jahren tobt in der niederländischen Hauptstadt der sogenannte Mocro-Krieg zwischen mehreren Gruppen von Männern hauptsächlich marokkanischer Herkunft, die unter anderem im Drogenschmuggel und -handel aktiv sind. Begonnen hat er angeblich mit dem Verschwinden einer Kokain-Lieferung im Hafen des belgischen Antwerpen.

Diese Gruppen gelten als extrem brutal. Es kam schon zu Enthauptungen, Brandanschlägen, Entführungen und jährlich zu fast einem Dutzend Morden im kriminellen Milieu. Sehr häufig wird - nicht nur in Amsterdam, sondern auch in anderen niederländischen Städten - über Schießereien auf offener Straße berichtet, bei denen schon mehrere Unbeteiligte zu Tode kamen. Letztlich wird die Tat auch die Diskussion über eine andere Drogenpolitik befeuern.

© SZ vom 19.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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