Niederlande:Neu nachdenken über das Leben

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Lieber bessere Seniorenwohnungen bauen: In Niederlanden ist eine neue Debatte über Sterbehilfe im Gange. (Foto: Jens Kalaene/dpa)

Rückschlag für Befürworter der Sterbehilfe: Eine Befragung bremst die Ausweitung der Praxis in den Niederlanden.

Von Thomas Kirchner, München

Jeder Mensch soll möglichst autonom über seine Lebensumstände entscheiden können, das ist ein Glaubenssatz der niederländischen Gesellschaft. Auf dieser Basis ist die Praxis der Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen auf immer größere Gruppen ausgedehnt worden, von den tödlich Kranken über chronisch Kranke zu psychisch Kranken und Dementen. Selbst Kindern darf, in wenigen Ausnahmefällen, straffrei Sterbehilfe gewährt werden. Gleichzeitig ist der Wunsch lauter geworden, auch jene älteren Menschen einzubeziehen, die nicht todkrank sind, aber ihr Leben für "abgeschlossen" oder "vollendet" halten.

Bisher hatte die Politik auch für diese Gruppe eine Legalisierung der Sterbehilfe geplant - es wäre eine bedeutende, weltweit einzigartige Grenzverschiebung. Doch daraus wird vorerst wohl nichts, nachdem eine Untersuchung im Auftrag des Gesundheitsministeriums die Schwierigkeiten aufgezeigt hat. Die moralischen und gesellschaftspolitischen Probleme sind demnach höher und das Bild ist diffuser, als es der bisweilen forsche Stil der Diskussion vermuten ließ.

Durch eine repräsentative Befragung von mehr als 20 000 Bürgern hat ein Team der Universität Utrecht erstmals ermittelt, über wen überhaupt gesprochen wird. Demnach sind es etwa 10 000 Niederländer (0,18 Prozent der Bevölkerung über 55 Jahre), die mit ihrem Leben "abgeschlossen" haben und Hilfe erbitten, weil sie ohne ernsthafte Erkrankung einen dringlichen Todeswunsch empfinden. Dieser Wunsch ist jedoch selten eindeutig und unveränderlich, die Hälfte empfindet ihn "mal mehr, mal weniger", zum Teil auch abhängig von der Jahreszeit; nur bei einem Fünftel ist er "täglich" und "dauerhaft". Einer der Befragten sagte gar, er wünsche sich eine Pille, mit der er sich nur den Winter über töten könne. Überraschend viele der Lebensmüden, fast die Hälfte, sind zwischen 55 und 65 Jahre alt, ähnlich viele niedrig gebildet. Zwei Drittel sind Frauen, was die Forscher nicht erklären können.

Politisch am heikelsten sind die Faktoren, die laut der Studie den Todeswunsch verstärken: Einsamkeit (56 Prozent), das Gefühl, eine Last für andere zu sein (42) sowie Geldmangel (36). Jenseits der Sterbehilfe-Frage bestehe hier politisch wie gesellschaftlich Handlungsbedarf, hieß es in mehreren Reaktionen. "Wir müssen alles dafür tun, damit diese Menschen wieder den Sinn des und ihres Lebens finden", sagte Gesundheitsminister Hugo de Jonge.

Das Ergebnis der Studie gilt als Rückschlag für Sterbehilfe-Befürworter, die politisch vor allem von der linksliberalen D66 vertreten werden. Die Regierungspartei ließ den Wunsch nach einer gesetzlichen Regelung 2017 in den Koalitionsvertrag aufnehmen. Bisher wusste sie eine Mehrheit im Parlament hinter sich, was laut Umfragen dem Willen der Bevölkerung entspricht. Aus mehreren Parteien hieß es angesichts der Studie nun, man werde neu nachdenken - zur Freude der Kirchen und der mitregierenden Kleinpartei Christen-Unie. Im liberalen NRC Handelsblad warnte eine Biologin, man dürfe den Menschen keinen "Aus-Knopf" geben, weil die Natur das so nicht vorsehe. Statt den Todeswunsch zu "normalisieren", solle man bessere Seniorenwohnungen bauen. Auch die Leiterin der Studie, Els van Wijngaarden, äußerte Zweifel, dass ein Gesetz der Problematik gerecht werden könnte: "Je mehr man sich mit dem Thema befasst, desto komplexer wird es." Nicht alle Sterbewünsche seien erfüllbar, sagte sie der Zeitung Trouw. Viele Menschen bräuchten vor allem jemanden, mit dem sie über das Lebensende sprechen könnten. Das sei im privaten Raum noch immer schwierig, trotz der intensiven öffentlichen Debatte.

Van Wijngaardens Studie ist schon die zweite zum Thema. 2016 hatte eine Kommission empfohlen, von einer speziellen Regelung abzusehen. Das bestehende Sterbehilfe-Gesetz reiche aus, weil Menschen mit starkem Todeswunsch angesichts der Vielzahl ihrer Alterssorgen schon so "unerträglich und aussichtslos" litten, wie es das Gesetz als Kriterium nennt.

Pia Dijkstra von D66 will sich nicht entmutigen lassen. In wenigen Wochen werde sie einen Gesetzesvorschlag präsentieren, der die Studie berücksichtige, kündigte sie an. Er ziele auf Menschen jenseits von 75 Jahren. Es gehe weniger darum, konkrete Sterbewünsche zu erfüllen. Für viele sei es schon beruhigend zu wissen, dass es diese Möglichkeit gebe.

© SZ vom 04.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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