Neuer Premierminister:Kanadas Kennedy

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Kanadas designierter Premierminister Justin Trudeau hat einen berühmten Namen und will den Wandel nach Ottawa bringen. (Foto: Nicholas Kamm/afp)

Die Erwartungen an den Liberalen Justin Trudeau sind hoch. Der 43-Jährige trägt einen berühmten Namen und hat ein ehrgeiziges Ziel - echten Wandel in Ottawa.

Von Bernadette Calonego, Vancouver

Kanadas designierter Premierminister Justin Trudeau tat wieder einmal etwas Unerwartetes. Am Morgen nach seiner spektakulären Wahl tauchte der 43-Jährige scheinbar unbewacht in einer U-Bahn-Station in Montreal auf. Dort lief er auf die Pendler seines Wahlkreises Papineau zu, schüttelte Hände, parlierte gut gelaunt, posierte für Selfies und dankte allen für die Unterstützung. "Traf heute morgen unverhofft den Premierminister!", vermeldete eine junge Montrealerin namens Josy J. auf Twitter, mit einem Foto als Beweis.

So etwas haben viele Kanadier noch nie erlebt: einen Regierungschef zum Anfassen. Justin Trudeau fliegen derzeit die Herzen zu. Der Vorsitzende der Liberalen Partei schaffte es am 19. Oktober mit einem überraschend starken Wahlresultat an die Spitze Kanadas und besiegte die seit neun Jahren regierenden Konservativen.

Trudeau trägt einen berühmten Namen, sieht gut aus, ist mit einer bildhübschen Fernsehmoderatorin verheiratet und hat mit ihr drei fotogene Kinder. So viel Glamour ließen sich ausländische Medien nicht entgehen. US-Zeitungen wie das Wall Street Journal und die New York Times zeigten das strahlende Ehepaar auf ihren Titelseiten. Andere Medien druckten Fotos von Trudeaus Bizeps-Tätowierung oder Bilder aus den wilden Snowboarder-Tagen, vom Freizeitathleten im Boxring, im Kanu, auf Stelzen oder beim Tanzen. Die Kanadier nehmen das internationale Interesse stolz und belustigt zur Kenntnis. "Kanada ist eine der wichtigsten Industrienationen", sagt Gerald Maier, Politologe von der Universität UBC in Vancouver. "Wir verdienen Aufmerksamkeit, und wenn der neue Premierminister dabei hilft, ist das gut."

Das Amt gehört zur Familie: Schon der Vater Justin Trudeaus war Regierungschef

Schon Justin Trudeaus Vater war einer der wenigen kanadischen Premierminister, die im Ausland bekannt waren. In Kanada selbst ist Pierre Elliott Trudeau, der die Grundrechte der Bürger in Kanadas Verfassung verankerte, bis heute eine Legende. Aber seinem ältesten Sohn halfen die illustre Abstammung und die Kennedy-Aura anfänglich nur bedingt. Für viele Wähler war es Liebe auf den zweiten Blick. Das Land war zwar reif für etwas Neues. Indes herrschten erst weit verbreitete Zweifel, ob sich Trudeau, ein ehemaliger Türsteher, Wildwasser-Sportler, Snowboardlehrer, als Regierungschef eignet.

Die geringen Erwartungen halfen dem unkonventionellen Quereinsteiger, der Literatur, Erziehungswissenschaften und Maschinenbau studiert hat. Im Wahlkampf wirkte er viel souveräner und kompetenter als seine Gegner behaupteten. Den Ausschlag gab letztlich das große Verlangen vieler Wähler, den streitsüchtigen, selbstherrlichen Premierminister Stephen Harper in die Wüste zu schicken. Deswegen warfen sie einen zweiten Blick auf den optimistischen, kontaktfreudigen Trudeau, der ihnen die Vision einer freundlicheren, gerechteren Nation gab.

"Ich bin bereit, einen echten Wandel nach Ottawa zu bringen", versprach Trudeau. Jetzt muss er das unter Beweis stellen, was nicht leicht wird. Als Erstes rief der designierte Premierminister den US-Präsidenten Barack Obama an, um ein Wahlversprechen einzulösen: den Rückzug der kanadischen Kampfflugzeuge von Einsätzen gegen die Terrormiliz IS. Viele Kanadier wollen wieder vermehrt zu den traditionellen Rollen als humanitäre Helfer, Blauhelmsoldaten und internationale Friedensstifter zurückkehren. Trudeau fand besonders Anklang bei jenen Bürgern, die sich etwas nostalgisch nach einem Kanada sehnen, das Werte wie Offenheit, Toleranz, Einigkeit, Höflichkeit und freundliche Zusammenarbeit hochhält. Diese Pfeiler der nationalen Identität sahen viele in den Harper-Jahren bedroht.

Mit Spannung wartet das Land nun auf Trudeaus Kabinett, das zur Hälfte mit Frauen besetzt und am 4. November vereidigt werden soll. Die Vorhaben der Liberalen sind ehrgeizig: Sie wollen unter anderem das Mehrheitswahlrecht ändern, das Anti-Terrorismus-Gesetz überarbeiten, das vielen Bürgern viel zu weit geht, sie wollen niedrigere Steuern für Kleinverdiener und höhere für Reiche, auch eine bessere internationale Zusammenarbeit und eine grünere Klimapolitik. Sie wollen den Konsum von Marihuana entkriminalisieren und Milliarden in die Infrastruktur des Landes investieren. Vor allem aber soll der Zugang der Medien und Bürger zu Regierungsspitze und Ministern leichter werden.

Die Liberale Partei war im 20. Jahrhundert die meiste Zeit an der Macht

Dank seiner starken Stellung und der Parlamentsmehrheit kann der kanadische Regierungschef wegweisende Veränderungen herbeiführen. Bedingung ist eine strikte Parteidisziplin. Die Erwartungen an den künftigen Premier sind hoch. "Ich glaube nicht, dass Justin Trudeau derzeit genügend auf sein Amt vorbereitet ist", sagt Nelson Wiseman, Politikwissenschafter an der Universität Toronto. "Aber er kann mit seiner Aufgabe wachsen, und er hat kluge Leute um sich geschart."

Genau besehen haben die Kanadier mit dieser Wahl nichts Revolutionäres getan, denn sie sind wieder in die politische Mitte gerutscht. Die Liberale Partei war allein im vergangenen Jahrhundert 69 Jahre lang an der Macht. Jetzt hat sie dank einer neunjährigen Auszeit den nötigen Generationenwechsel geschafft. Dass der Premierminister erneut ein Trudeau ist, scheint für die meisten jungen Kanadier eine untergeordnete Rolle zu spielen. Wichtiger ist, dass sie ihn in einer U-Bahnstation antreffen und ein Selfie mitnehmen können. "Ich hoffe, er bleibt weiterhin so bescheiden und volksnah", kommentierte eine Kanadierin auf der Webseite des Fernsehens CBC. Noch dauern die Flitterwochen in Kanada an.

© SZ vom 26.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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