Nach dem Zweiten Weltkrieg:Zerstückelt, zerhackt, in Leichenberge gestoßen

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Nach dem Kriegsende 1945 zog kein Friede ein. Keith Lowe schildert grauenhafte Untaten, aber er erklärt sie nicht.

Von Benjamin Ziemann

Mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 hatte die Gewalt des Zweiten Weltkrieges noch kein Ende. In den zerstörten Städten Europas waren hungernde Menschen auf der Suche nach Essbarem wie nach einem Objekt der Vergeltung für ihre Leiden.

Blutdürstige Rache, Vertreibungen, ethnische Säuberungen sowie Bürgerkriege und Kämpfe von antisowjetischen Partisanen dauerten in vielen Ländern jahrelang an. Zu tief hatte sich die Gewalt des Krieges vor allem in die Gesellschaften Ostmitteleuropas hineingefressen, als dass sie dort einfach mit einem Mal erlöschen konnte.

Mit diesem Bild eines von eruptiver Gewalt und hasserfüllter Abrechnung geprägten Kontinents wendet sich Keith Lowe gegen die Idee einer "Stunde null", in der die Niederlage der Nazis praktisch unmittelbar zu einer Periode des friedlichen Wiederaufbaus führte. Lowe entwickelt sein Argument in drei Schritten. Zunächst geht es um Rache. Als US-Soldaten im April 1945 das KZ Dachau befreiten, erschossen sie in ihrer Wut über das Gesehene mehrere Dutzend der SS-Wachmänner.

In Westeuropa blieb die Vergeltung an Kollaborateuren und Verrätern der nationalen Sache zum einen symbolisch. In Frankreich und Italien wurden Tausenden Frauen, die sich mit Deutschen eingelassen hatten, öffentlich die Haare geschoren, und aufgebrachte Männer trieben sie nackt durch die Ortschaften. Zum anderen gab es Gerichtsverfahren und Todesurteile gegen Kollaborateure. Deren Zahl wurde später oft propagandistisch aufgebauscht, und schwankte enorm zwischen den einzelnen Ländern. In Italien geschah die Säuberung nur sehr oberflächlich, was an einigen Orten zu Akten der Lynchjustiz führte.

Im zuvor von der Wehrmacht besetzten Osteuropa gab es zudem gewalttätige Übergriffe gegen ortsansässige Deutsche. In der Tschechoslowakei starben so bis zu 40 000 Deutsche. Im polnischen Zgoda entstand im Februar 1945 ein Straflager, in dem bis zum November etwa ein Drittel der deutschen Gefangenen umkam.

Wie die Rache aussah, als die Nazis weg waren

Das zweite Thema sind die gewaltsamen Vertreibungen. Sie richteten sich gegen die in Osteuropa lebenden Deutschen ebenso wie gegen die dort überlebenden Juden. Besonders ausführlich widmet sich Lowe den wechselseitigen ethnischen Säuberungen von Polen und Ukrainern. Sie gehen auf die Zeit seit 1939 zurück, als der Osten Polens mehrfach zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern hin- und hergereicht wurde.

Von 1941 an verübten polnische und ukrainische Partisanen Massaker an Zivilisten der anderen Seite, in einem Zyklus von Akten der Selbstverteidigung und Rache. Von 1944 an schlug Gewalt dann in Vertreibung um, als Ukrainer und Polen die jeweils andere Minderheit "repatriiierten". In Polen zerstreute von 1947 an ein Programm der gewaltsamen Assimilierung die verbliebenen Ukrainer über das ganze Land.

Schließlich geht es um die politische Gewalt, welche die erzwungene Stalinisierung und Bürgerkriege in vielen Ländern nach sich zogen. Im Mittelpunkt steht hier Griechenland, wo sich die Briten bereits Ende 1944 gewaltsam gegen jene kommunistischen Partisanen wandten, deren Befreiung von den Deutschen sie doch eigentlich befördern sollten. Die Partisanen antworteten mit Terror gegen heimische Verräter und Kollaborateure. Er stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der erst 1949 mit der Unterdrückung der Linken endete.

Als eine vergleichende Übersicht über Racheakte und Bürgerkriege in Europa unmittelbar nach 1945 ist das Buch von Lowe durchaus hilfreich.

Als eine historische Deutung kann es dagegen kaum überzeugen. Das liegt zum einen an den pauschalen Behauptungen, mit denen Lowe - ein gelernter Verlagslektor und Autor von Romanen, der als Historiker eher ein Autodidakt ist - seine Leser zu beeindrucken versucht. Da ist von der "Psyche des Kontinents" die Rede, die sich "grundlegend" verändert habe. Und selbstredend muss es gleich "eine ganze Generation" deutscher Frauen sein, die 1945 für einen Schokoriegel Sex mit GIs hatte.

Noch problematischer ist, dass Lowe keinen analytischen Zugang zur Geschichte der Gewalt findet. Er zitiert häufig und ausführlich aus den Beschreibungen von Zeitzeugen, die einzelne Akte der Gewalt in ihrer blutigen Grausamkeit beschreiben. Da werden Körper zerstückelt, zerhackt und von Messern durchfurcht und Überlebende mit dem Gewehrkolben in den schleimigen Brei von Leichenbergen gestoßen. Aber welchen Sinn hatten diese Gewalttaten für die Täter? Welche administrativen und situativen Kontexte ermöglichten ihr Handeln? Welche Folgen hatte es?

Antworten auf diese Fragen bleibt Lowe schuldig. Statt die Dynamik der Gewalt historisch zu verstehen, bietet er nur eine Anhäufung von Gräuelgeschichten, die den Leser - je nach Gusto - abstoßen oder faszinieren mögen. Angesichts der runden Jahrestage des Ersten Weltkriegs (2014) und des Zweiten (2015) ist es nötig und sinnvoll, über die Folgen kriegerischer Gewalt zu sprechen. Aber ohne die Frage nach den sozialen Zusammenhängen, in denen die Gewalt fortwirkte, bleibt das eine leere rhetorische Geste.

Benjamin Ziemann lehrt Neuere Geschichte an der University of Sheffield.

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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