Nach dem Brexit-Referendum:London spielt auf Zeit

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Bis Anfang September wollen die regierenden Tories einen Nachfolger für Premier David Cameron finden. Kanzlerin Merkel mahnt: Es darf keine Hängepartie geben.

Von Stefan Kornelius, München

Die britischen Konservativen wollen bis spätestens 2. September einen Nachfolger für den scheidenden Premierminister David Cameron wählen. Ein Fraktions-Ausschuss der Tories einigte sich am Montag in London auf einen Fahrplan und legte ein zweistufiges Verfahren fest: Die Abgeordneten sollen die Bewerberliste zunächst auf zwei Kandidaten reduzieren, ehe alle Parteimitglieder zwischen den Finalisten wählen können.

Das Verfahren könnte den Anführer des Brexit-Lagers, Boris Johnson, bevorzugen. Camerons Gefolgsleute scheiterten mit der Forderung, dass unter den beiden Finalisten eine Frau sein solle. Das hätte der moderaten Europa-Kritikerin, Innenministerin Theresa May, gute Chancen eingeräumt. Möglicherweise tritt auch Schatzkanzler George Osborne an, um Johnson zu verhindern.

Cameron selbst meldete sich erstmals nach dem Votum im Unterhaus zu Wort und verbreitete den Eindruck von Geschäftsmäßigkeit. Er kündigte an, er wolle den EU-Austritt nicht bereits an diesem Dienstag beim Rats-Treffen beantragen. Camerons Berater und Staatsminister im Premierministeramt, Oliver Letwin, wurde mit dem Management des Ablöseprozesses von der Europäischen Union beauftragt. Der Premier versicherte den Briten, sie müssten keine unmittelbaren Einschnitte in ihre Rechte befürchten. Sie müssten nun klären, "welche Art von Beziehung wir mit der EU haben wollen".

Cameron sprach sich gegen baldige Neuwahlen aus. Am Montag setzten sich die Turbulenzen an den Finanzmärkten fort. Das Pfund fiel auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren. Staatsanleihen wurden mit einer Rendite von unter einem Prozentpunkt gehandelt. Osborne bemühte sich um Beruhigung und sagte, Großbritannien handle "aus einer Position der Stärke" - eine Sicht, die die Märkte nicht teilten. Die Ratingagentur S&P stufte Großbritanniens Kreditwürdigkeit von der Bestnote AAA auf AA herab. Besorgte Kommentare kamen von US-Finanzminister Jack Lew und dem IWF.

Auch die britische Opposition setzte ihre Selbstdemontage fort. 23 der 31 Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts gaben auf oder entzogen Parteichef Jeremy Corbyn die Unterstützung. Dabei kam es zu emotionalen Szenen und wüsten Beschimpfungen des Vorsitzenden. Corbyn machte klar, dass er sich erneut bei den Parteimitgliedern zur Wahl stellen würde, sollten ihn die Abgeordneten abwählen. Die Vertrauensabstimmung bei Labour wurde Dienstagfrüh erwartet.

Die EU-Mitgliedstaaten bereiteten ihr Rats-Treffen vor. Kanzlerin Angela Merkel konferierte in Berlin mit Frankreichs Präsident, Italiens Premier und dem EU-Ratspräsidenten. Sie wiederholte ihre Position, man werde Großbritannien nicht drängen, aber es dürfe auch "keine Hängepartie" geben. Merkel schloss aus, dass es mit London informelle Verhandlungen geben könnte. Voraussetzung für Verhandlungen sei eine formelle Austrittserklärung. Merkel stellte sich so Sorgen entgegen, London könnte auf Zeit spielen und die EU in eine Phase der Ungewissheit stürzen.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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