Mutmaßlicher Kriegsverbrecher:Demjanjuk und die Schuld

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Der mutmaßliche Kriegsverbrecher John Demjanjuk in den Händen der Justiz: Im wohl letzten NS-Prozess geht es nicht um Strafe. Es geht darum, Unrecht festzuhalten.

Heribert Prantl

Heute sind sie gebrechlich, tatterig und schwerhörig. Damals, vor unendlich langer Zeit, haben die Männer, die heute auf die neunzig zugehen, im Schlachthaus der Weltgeschichte für "Ruhe und Ordnung" gesorgt. Sie haben hungernde Kinder Kot fressen lassen und sie anschließend erschossen. Sie haben getötet - wen, wenn und wann sie wollten; grausam, nach Laune, tausend- und zehntausendfach.

John Demjanjuk wurde mit einem Krankenwagen in die JVA Stadelheim gebracht. (Foto: Foto: AFP)

Später haben sie Kaninchen und Forellen gezüchtet in den USA oder in Lateinamerika, sie galten dort als brave und unauffällige Bürger. Sie haben ihre Vergangenheit sorgsam verbogen und verborgen, sie haben wunderbar angepasst gelebt - und die deutsche Justiz hatte wenig Lust, sie zu verfolgen.

"Es war eben Krieg", hieß es in den Nachkriegsjahrzehnten entschuldigend. Das Verständnis für die Nazi-Täter war größer als die Bereitschaft, sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. So genau, wie es für einen Strafprozess notwendig ist, wollte man "es" nicht wissen. Dieses Nicht-wissen-Wollen war und bleibt die zweite deutsche Schuld. Juristische Aufarbeitung der Vergangenheit? Hätte es damals nicht einen Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, gegeben, man könnte wohl das Wort "Aufarbeitung" gar nicht benutzen.

Dieser Fritz Bauer hat in den sechziger Jahren, als fast alle anderen Staatsanwälte abwartend die Arme verschränkten oder abwimmelten und abwinkten, die ersten großen NS-Prozesse betrieben, den Auschwitz-Prozess vor allem. Nicht weil er rachsüchtig war, sondern weil er, wenn auch vergeblich, auf die Reue der Täter hoffte. Er war ein Humanist und ein Missionar des Rechtsstaats. Die Staatsanwälte, die jetzt den Haftbefehl gegen John Demjanjuk vollstrecken, und die Richter, die jetzt den Strafprozess gegen ihn zu führen haben - sie sind Fritz Bauers späte Schüler.

Der Prozess gegen John Demjanjuk wird wohl der letzte der NS-Prozesse sein. Diese letzten Prozesse waren und sind furchtbar: nicht deswegen, weil die Nazi-Schergen heute so furchtbar alt sind, sondern deswegen, weil die deutsche Strafjustiz gestern und vorgestern so furchtbar säumig und so furchtbar nachsichtig war. Ist also nun das Verfahren gegen den alten Demjanjuk ein Versuch, die alten Versäumnisse der Justiz auszugleichen? Wenn es so wäre, wäre es ein untauglicher Versuch.

Die Schuld der Nachkriegsjustiz lässt sich nicht mehr tilgen. Aber: Die Justiz von heute kann wenigstens die Schuld der Demjanjuks noch feststellen. Nur darum geht es bei diesem Strafprozess - um die Schuld an zigtausendfachem Mord. Es geht nicht um Strafe, die ist hier unwichtig, die Strafhöhe ist einerlei. Für einen Greis bedeutet auch eine Strafe von nur wenigen Jahren ein lebenslänglich; aber sie wird eh nicht vollstreckt werden können, weil der Mann nicht mehr haftfähig sein wird. Demjanjuk ist zwar, wie es aussieht, verhandlungsfähig, weil es dafür ausreicht, wenn er dem Prozess folgen kann (und sei es nur für ein paar Stunden am Tag). Haftfähigkeit ist aber etwas anderes als Verhandlungsfähigkeit.

Die Demjanjuks haben ein beschauliches bürgerliches Leben unverdient fast zu Ende leben dürfen. Strafe erreicht diese Leute nicht mehr, Sühne greift nicht mehr. Das Strafverfahren gegen Demjanjuk dient einzig und allein dazu, grauenvolles Unrecht als solches zu verurteilen; darauf haben die Opfer einen Anspruch. Und diesen Schuldspruch zu fällen, ist die Pflicht des Rechtsstaats: Mord verjährt nicht, die Wahrheit auch nicht. Und so ist der Prozess gegen Demjanjuk nicht nur ein Prozess gegen einen alten Mann, sondern ein Prozess um die Wahrheit. Mag dem alten Mann Haft nicht mehr zuzumuten sein - die Wahrheit ist es schon.

Es ist schwer, diese Wahrheit nach 66 Jahren noch zu eruieren. Die wenigen Überlebenden des organisierten Massenmords sind so alt wie Demjanjuk, und das Gedächtnis solcher Zeugen gilt juristisch nicht sehr viel. Lange Zeit hat die Justiz Zeugen der KZ-Verbrechen so befragt und so behandelt, als hätte sie die Beifahrer eines Unfallfahrzeugs vor sich. Von denen, die seinerzeit im Lager keine Uhr und keinen Kalender besaßen, von denen, die vor Angst und Schrecken wie gelähmt waren, verlangten die Gerichte, Stunde und Tag von Quälereien zu nennen und sich selbst an nebensächlichste Details zu erinnern. "Wenn wir uns dann in einem Punkt irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan", so klagte ein ehemaliger KZ-Häftling schon vor vierzig Jahren. Opfer wurden vor Gericht wie Lügner behandelt.

Die Justiz hat erst spät gelernt, Glaubwürdigkeit und Erinnerungszuverlässigkeit solcher Zeugen richtig zu bewerten. Das gehört mit zur Tragik der NS-Prozesse. Heute ist die Justiz sensibler, aber die Zeugen sind fast alle tot. Hoffentlich hat die Staatsanwaltschaft in ihren 17 Ordnern mit Beweismaterial viele ihrer Aussagen richterlich protokolliert. Die Monströsität der Naziverbrechen erspart nämlich nicht die Penibilität der Beweisführung - die sich im Demjanjuk-Prozess in erster Linie auf Dokumente wird stützen müssen. Der Demjanjuk-Prozess ist der Schlussstein in der Geschichte der NS-Prozesse. Er verdient jede Sorgfalt.

© SZ vom 13.5.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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