Misshandlungen:Martyrium im Verborgenen

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Die Zahl der verwahrlosten Kinder in Deutschland wird auf 100.000 geschätzt, nur einige der schlimmsten Fälle kommen ans Licht. Ein Abriss.

Nadeschda Scharfenberg

Der Gerichtsmediziner, der die Leiche der siebenjährigen Jessica obduzierte, wählte einen erschreckenden Vergleich, um den Zustand des geschundenen Körpers zu beschreiben: Man müsse bis zu den Sektionsprotokollen des Warschauer Ghettos zurückgehen, um solch einen Befund in Europa aufzutreiben.

Das Mädchen wog bei seinem Tod keine zehn Kilo, normal wäre in dem Alter das Zweieinhalbfache. "Das Kind war massiv ausgezehrt", gab der Rechtsmediziner vor einem Jahr vor Gericht zu Protokoll, eine Folge jahrelanger Unterernährung.

In ihrer Verzweiflung hatte Jessica den Putz von den Wänden ihres vermüllten, finsteren Zimmers gekratzt und gegessen, in ihrem Magen fanden sich Büschel ihrer eigenen Haare.

Jessica aus Hamburg starb am 1. März 2005, sie erstickte an ihrem Erbrochenen - weil ihr Verdauungstrakt die ausnahmsweise verabreichte Nahrung nicht mehr aufnehmen konnte. Die Eltern wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen Mordes durch Unterlassen. Sie beantragten Revision.

Aufgerüttelt durch besondere Grausamkeit

Jessicas Leidensgeschichte hat die Menschen aufgerüttelt, weil sie besonders grausam ist, ebenso wie weitere Vernachlässigungsfälle mit Todesfolge. 2004 starb in Hamburg die zweijährige Michelle an einem Hirnödem, weil ihre Eltern keinen Arzt riefen.

Im selben Jahr fand die Polizei in einer Kühltruhe in Cottbus die Leiche des sechsjährigen Dennis, den seine Eltern verhungern ließen. Auch der zweijährige Benjamin aus Sachsen-Anhalt, dessen Leichnam im Frühjahr im Müll entdeckt wurde, starb an Unterernährung.

Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut in München hält Vernachlässigung für die häufigste Form der Kindswohlgefährdung. Auf 100.000 schätzt der Kinderschutzbund die Zahl der verwahrlosten Kinder.

Fälle mit Todesfolge sind aber die Ausnahme", sagt Katharina Abelmann-Vollmer vom Kinderschutzbund, die meisten Martyrien spielen sich im Verborgenen ab. Dabei werden den Jugendämtern oft schwere Versäumnisse vorgeworfen.

Bei Jessica gab die Behörde nach mehreren vergeblichen Hausbesuchen auf, weil sie annahm, das Kind sei zwar in Hamburg gemeldet, wohne aber tatsächlich nicht dort.

Und im Fall des verhungerten Benjamin glaubten die Mitarbeiter der Darstellung der Mutter, dass der Junge sich bei der Oma aufhalte. Die Stadt Hamburg zumindest hat jetzt die Befugnisse für die Jugendämter erweitert: Sie dürfen sich zum Beispiel Zutritt zur Wohnung einer Familie verschaffen, die ihre Kinder nicht zur Schule schickt. Früher mussten sie sich abweisen lassen.

Die Jugendämter bewegen sich aber auf einem schmalen Grat, denn es sind auch Fälle bekannt, in denen Eltern offenbar zu Unrecht ihre Kinder weggenommen wurden.

In Regensburg kämpft eine Familie seit zweieinhalb Jahren um das Sorgerecht für ihren Sohn. Ein Gericht hatte der Mutter ohne Gutachten die Erziehungsfähigkeit abgesprochen, weil der Verdacht bestehe, sie verletze das Kind absichtlich.

In diesem Sommer machte der Fall einer 18-jährigen Gehörlosen aus Düsseldorf Schlagzeilen: Das Jugendamt gab ihr drei Tage altes Baby ohne Vorwarnung in eine Pflegefamilie.

Im Jahr 2004 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem ähnlichen Fall entschieden, dass die Bundesrepublik 53 000 Euro Schmerzensgeld an die Eltern zahlen muss. In dem Urteil heißt es: "Die Wegnahme der Kinder war ein drastischer Verstoß gegen die Menschenrechte."

© SZ vom 12.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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