Der Gastbeitrag wurde verfasst von Christian Pfeiffer. Der 66-Jährige ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.
Der Theologe Hans Küng hat vor kurzem in der Süddeutschen Zeitung die These aufgestellt, der Zölibat sei mitverantwortlich für einen massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester und Ordensangehörige. Gibt es für diese Behauptung ausreichende Belege?
0,1 Prozent der Täter waren katholische Priester
Der Spiegel fragte Anfang Februar bei allen 27 Diözesen Deutschlands nach, wie viele Priester oder kirchlich angestellte Laien in ihrem jeweiligen Amtsgebiet seit 1995 als Tatverdächtige oder Verurteilte dieses Deliktes registriert worden sind. 24 Diözesen haben geantwortet. Wenn man die von ihnen benannten sieben Laien streicht, ergeben sich 117 tatverdächtige Priester - im Durchschnitt pro Bistum also 4,9. Unterstellt man ferner für die drei fehlenden Bistümer sicherheitshalber jeweils eine doppelt so große Zahl, also 30 weitere Personen, errechnet sich eine Gesamtzahl von vielleicht 147 Priestern, die in den 15 Jahren bundesweit von der Polizei als Tatverdächtige registriert wurden.
Dem steht gegenüber, dass in Deutschland zwischen 1995 und 2008 die Zahl der polizeilich erfassten Tatverdächtigen des sexuellen Kindesmissbrauchs insgesamt 128.946 betrug. Rechnen wir für 2009 noch den Durchschnittswert dieser 14 Jahre hinzu, ergibt sich für die 15 Jahre eine Gesamtzahl von rund 138.000. Von ihnen waren also 0,1 Prozent katholische Priester. Massenhaft kann man das nicht nennen.
Aber gibt es hier nicht ein erhebliches Dunkelfeld? Ja - und es spricht viel dafür, dass es bei Missbrauchsfällen in der Kirche besonders groß ist. Die Hemmschwelle, einen Priester anzuzeigen, dürfte für viele Opfer höher sein als bei Tätern aus ihrem sonstigen nicht-familiären Umfeld. Aber selbst wenn die kirchliche Dunkelfeldquote deswegen beispielsweise dreimal größer wäre als dort, läge der Anteil der Priester bei den Tätern lediglich bei drei statt bei einem Promille. Die katholische Kirche hat also gegenwärtig kein primär quantitatives, sondern vor allem ein qualitatives Problem. Die Menschen sind entsetzt darüber, dass gerade Priester und Ordensmitglieder, die mit hohem moralischen Anspruch auftreten, sich derart massiv an Kindern versündigt haben. Und sie sind empört über eine Kirche, die die Opfer schlecht behandelt hat, die solche Vorgänge vertuscht hat und die schuldige Priester oft nur versetzt hat, mit der Folge, dass weitere Kinder Opfer des Missbrauchs geworden sind.
Aber wie steht es um die zweite These von Küng, dass katholische Priester durch den Zölibat ein deutlich erhöhtes Risiko haben, zu Kinderschändern zu werden? Gegen diese Behauptung spricht zunächst, dass es sich bei einem großen Teil der Täter um pädophile Männer handelt, also um Personen, die bereits unmittelbar nach der Pubertät darauf festgelegt sind, durch vorpubertäre Kinderkörper sexuell erregt zu werden und sich in Kinder zu verlieben. Bei ihnen kann die spätere Entscheidung, als Priester eine Keuschheitsverpflichtung einzugehen, ihre sexuelle Grundorientierung in keiner Weise befördert haben.
Zu beachten ist nun allerdings, dass ein beträchtlicher Teil der Taten von Personen begangen werden, die eigentlich erwachsene Sexualpartner bevorzugen würden - das aber aus verschiedenen Gründen nicht können. Die an der Charité Berlin tätigen Sexualforscher um Professor Klaus Beier nennen hier als Gründe beispielsweise eine Intelligenzminderung, eine Persönlichkeitsstörung oder eine Suchtproblematik. Die sexuellen Übergriffe gegen Kinder sind dann gleichsam eine Ersatzhandlung. Die Frage stellt sich deshalb, ob auch der Zölibat ein derartiges Verhalten provozieren kann.
Prävention und Hilfeleistung: Lesen Sie auf der nächsten Seite, was die Kirche jetzt unbedingt tun muss.
Gegen diese Annahme könnte sprechen, dass nicht-pädophile Priester, die ihre Zölibatsverpflichtung nicht länger einhalten wollen, es dann wohl vorziehen werden, jemanden aus ihrer eigentlichen Zielgruppe zu finden - also erwachsene Frauen oder Männer. Zudem dürfte dieser Weg für sie mit weniger Ängsten besetzt sein als der sexuelle Kontakt zu Kindern, weil sie dadurch kein strafrechtliches Risiko eingehen.
Kirche der USA als Vorreiter
Aber sicher ist das keineswegs. Wir verfügen leider zu dieser wichtigen Frage über keine empirischen Befunde. Der Kirche ist deshalb zu empfehlen, dass sie die Hypothese empirisch überprüfen lässt, wonach nicht-pädophile Priester sich teilweise aus einer zölibatsbedingten sexuellen Notlage heraus vergangen haben, oder ob andere Motive dafür ausschlaggebend waren. Die katholische Kirche der USA könnte hier ein gutes Vorbild sein. Sie hat 2006 ein Team von unabhängigen Wissenschaftlern mit einer breiten Untersuchung zum sexuellen Missbrauch durch Priester beauftragt. Dabei wird dort auch die hier aufgeworfene Frage behandelt.
Und was ist der Kirche sonst noch anzuraten? Im Hinblick auf den Umgang mit Tätern und Opfern hat sie einen respektablen Kurswechsel eingeleitet, der nun konsequent umgesetzt werden muss.
Aber wie steht es um die Prävention? Die Kirche sollte hier zwei Erkenntnisse nutzen. Erstens: Potentielle Täter fürchten am meisten das Risiko der Entdeckung ihrer Tat. Daher ist alles gut, was die Anzeigebereitschaft der Opfer fördert. Zum Beispiel wäre das ein Angebot an alle Schülerinnen und Schüler - auch an katholischen Schulen -, unter ihren Lehrerinnen und Lehrern eine Vertrauensperson als Ansprechpartner/in für sexuellen Missbrauch zu wählen. Diese müsste dann die erforderliche Fortbildung erhalten.
Sexuelle Impulse unter Kontrolle bringen
Zweitens: Potentielle Täter brauchen Hilfe. Das von Beier und seinem Team an der Charité eingerichtete Projekt "Kein Täter werden" ist hierfür ein geeignetes Modell. Seit 2005 können sich dort pädophile Männer anonym und angstfrei melden - oder auch solche, die die Sorge haben, dass sie aus anderen Gründen in Gefahr sind, sich sexuell an Kindern zu vergehen. Sie erhalten kostenlos Beratung und therapeutische Hilfe, und dies auch dann, wenn sie bereits Missbrauchstäter geworden sind.
Ziel ist, den Betroffenen zu vermitteln, wie sie ihre sexuellen Impulse kontrollieren können. Die Ergebnisse der begleitenden Forschung sind sehr ermutigend. Die Kirche könnte nach diesem Konzept, vielleicht in Partnerschaft mit der Charité, für Priester eine Hotline einrichten - eine telefonische Anlaufstelle, die den Ratsuchenden auch konstruktive Hinweise dafür gibt, wo sie sich therapeutische Hilfe holen können.