Meine Presseschau:"Klima eines kalten Bürgerkrieges"

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(Foto: N/A)

Von Paris bis Budapest, von London bis Madrid: Europas Zeitungen machen sich Sorgen um den Zustand der Demokratie.

Von Karin Janker

Gesellschaften driften auseinander. Wachsende Ungleichheit, eine zunehmende Vielfalt der Lebensentwürfe, aber auch Unterschiede in der Infrastruktur tragen dazu bei, dass die Idee einer großen Gemeinschaft an Kraft verloren hat. Diese Diagnose wird nicht nur für Deutschland gestellt. Von Paris bis Budapest, von London bis Madrid bestimmt die Frage des sozialen Zusammenhalts die Debatten, versuchen Politiker, den Fliehkräften entgegenzuwirken. So mannigfaltig die Gesellschaften in den einzelnen Ländern Europas sind, so unterschiedlich wird über den verloren gegangenen Zusammenhalt diskutiert.

Besonders dringlich ist die Debatte derzeit in Frankreich, wo die Gelbwesten eine selbsterkorene "liberale Revolution" anzetteln. Hier tut sich eine Kluft auf - nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen Cité und Peripherie. Die linksliberale Tageszeitung Le Monde merkte selbstkritisch an, dass man unter jenen, die gelbe Westen tragen oder sich mit den Gilets jaunes solidarisieren, Figuren aus der kulturellen Elite vergeblich suche. Deren Schweigen sei "ohrenbetäubend". Weder staatlich subventionierte Kulturschaffende noch deren Publikum zählten sich zur Protestbewegung. Die Gelbwesten offenbaren demnach, wie massiv die gegenseitige Ignoranz der parallel existierenden Welten sei.

In Großbritannien, wo das Brexit-Chaos die Meinungsunterschiede der einzelnen Lager schon länger zutage treten lässt, tat ein Meinungsartikel im Guardian einen großen Schritt zurück und konstatierte: "In Ordnung, es gibt einen nationalen Notfall - aber das ist nicht der Brexit." Der Autor kritisiert, dass das ganze Gewese um den Brexit die eigentlichen Probleme im Land verdecke, die den sozialen Zusammenhalt massiv gefährden. "Es gibt eine Welt jenseits des Brexit", aber weil die Tragödien jener Welt weniger spektakulär seien, bekämen sie weniger Aufmerksamkeit. Zum Beispiel die Nachricht, dass mehr als die Hälfte der britischen Lehrer sich Sorgen machten, dass ihre Schüler an Weihnachten nicht genug zu essen hätten. Diese Nachricht müsse eigentlich Schlagzeilen machen und die Fernsehsendungen dominieren - stattdessen würden die Scharmützel der Konservativen kommentiert wie ein Fußballspiel, schreibt der Guardian.

In Ungarn, wo Tausende Menschen gegen ein neues Arbeitsgesetz von Ministerpräsident Viktor Orbán auf die Straßen gehen, beschreibt die Nachrichten-Webseite 24.hu eine "große Unzufriedenheit in der Gesellschaft". Diese entlade sich in den Protesten, die Orbán zuletzt als "hysterisches Geschrei" bezeichnete. Das Nachrichtenportal führt die Demonstrationen auf einen zerbrechenden sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zurück, der sich nicht dadurch kitten lasse, dass die politischen Lager Einigkeit beschwören.

Die Beobachtung, dass vor allem Armut, Jugendarbeitslosigkeit und soziales Gefälle den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährden, will die spanische Tageszeitung La Vanguardia nicht teilen. Die Zeitung mit Sitz in Barcelona sieht nicht in erster Linie wirtschaftliche Gründe hinter der Erosion der Solidarität; die Gefahr für die Demokratie liege in der Demokratie selbst. Die wachsende politische und gesellschaftliche Polarisierung gründe auf einer zunehmenden Skepsis gegenüber sämtlichen politischen Parteien. Sowohl Progressive als auch Konservative teilten die Bevölkerung demnach in zwei Gruppen ein: Die eine identifizierten sie als ihre Zielgruppe, für die sie Politik zu machen gedenken, die andere schlössen sie aus. Ein solches "Sektierertum" gefährde den inklusiven Geist der modernen Demokratie. Der Versuch, der Gesellschaft die Fiktion einer Gleichförmigkeit aufzuzwingen, sei unvereinbar mit dem Pluralismus, der für liberale Demokratien wesentlich ist, kritisiert La Vanguardia.

Dieser Versuch führe zu einem Zustand chronischer Konflikte und Zwietracht in der Gesellschaft, zu einem "Klima eines kalten Bürgerkrieges". Die Frage, wie Demokratie gelingen kann, ohne dass Parteien einerseits zu sektiererisch um Wähler werben und andererseits zu profillos werden, beantwortet die Zeitung indes nicht. So bleibt das Problem des sozialen Zusammenhalts für die Presse in Europa zwar eines der drängendsten der Zeit, am Ende aber ungelöst.

© SZ vom 24.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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