Machtwechsel:Die Pflicht zur Kür

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Die Kanzlerin kommt und der Kanzler taucht ab. Angela Merkel macht aus dem historischen Moment einen fast normalen Arbeitstag, und alle spüren, wie hoch der Preis einer geteilten Macht ist.

Jens Schneider, Nico Fried und Christoph Schwennicke

Ist das denn wirklich nur ein Montag wie jeder andere für Angela Merkel? Fast jeden Montag tagen in Berlin im Konrad-Adenauer-Haus die Spitzengremien der CDU. Gegen Mittag stellt sich die Vorsitzende der Partei vor die wartenden Journalisten und referiert in recht umständlicher Partei-Diktion die Beschlusslage. An diesem Montag warten zwar ein paar mehr Reporter auf sie. Die Kameraleute müssen hinten rempeln um die guten Plätze. Sie sind, wie das ganze Land weiß, aus gutem Grund gekommen.

Über nüchterne Erkenntnisse spricht Angela Merkel in nüchternem Ton (Foto: Foto: ddp)

Kein Beifall mehr nötig

Nur die Parteichefin gibt sich, als ob sie davon nichts wüsste. Sie hält alles so wie immer. Trägt vor, dass die Gremien der Partei einstimmig beschlossen haben. Referiert den Inhalt der Beschlüsse. Genau genommen ist der Ton sogar etwas gedämpft.

Ratlos fragt man sich, ob Angela Merkel nur den Eindruck vermeiden will, dass dies ein besonderer Tag ist - für Deutschland, für ihre Partei, aber doch auch für sie, für die erste deutsche Kanzlerin. Oder ob sie wirklich nicht den Ton für einen solchen Tag in sich finden kann.

Ihr Umfeld passt sich dem nüchternen Sound an. Noch in den ersten Tagen nach der Wahl hatten die Mitarbeiter der CDU-Zentrale extra lautstark applaudiert, wenn die Chefin kam, um zu zeigen, dass sie Kanzlerin werden muss. Aber jetzt stehen sie einfach nur da, als ob kein Beifall mehr nötig wäre. Blicken ernst auf ihre Chefin, die von der großen Koalition und ihren Fachressorts redet und nach passenden Begriffen für das kommende Bündnis sucht.

Eine "Koalition der neuen Möglichkeiten" verspricht Merkel. Auch die weiteren Ankündigungen klingen, als gehorche da jemand einer Not. Weil es, wie gesagt, keine vernünftige Alternative gibt und man sich mit den Realitäten abfinden muss. So geht es minutenlang, über das Verhältnis zu China wird gesprochen, über künftige Verhandlungstermine, bis plötzlich eine Frage den ganzen, von ihr gesteckten Rahmen sprengt.

"Erstens, es geht mir gut"

"Wie fühlen Sie sich?", fragt eine britische Journalistin, und in ihrer Frage klingt das große Erstaunen darüber mit, dass man davon bei dem ganzen Auftritt Merkels keine Ahnung bekommt. Eigentlich wollte sie gar keine Frage stellen. Aber diese Frage springt nun förmlich aus ihr heraus - und sie prallt auf eine erneut sehr kontrollierte Antwort.

"Ja, also, ich äh", setzt Merkel an, und fährt dann fort: "Erstens, es geht mir gut. Zweitens, ich glaube, dass sehr sehr viel Arbeit vor uns liegt." Das freilich sagt nichts über ihre Gefühle, und so fragt eine weitere ausländische Kollegin nach: "Sind Sie eine glückliche Frau?" Und wieder gibt es Gelächter, in dem sich das Gefühl der einheimischen Reporter auszudrücken scheint, dass man doch weiß, auf solche Fragen gibt es keine Antwort. Es ist, als ob Merkel kein öffentliches Vokabular für Emotionen hat. Nicht einmal von Erschöpfung oder Erleichterung spricht sie, sondern wieder von guter Stimmung und der vielen Arbeit, die vor ihr liegt - um dann sachlich festzustellen, dass es ja ganz schlimm wäre, wenn sie jetzt griesgrämig wäre. Mehr Euphorie lässt sie nicht zum Vorschein kommen.

Dabei hatte sich an diesem Vormittag endgültig alles in ihrem Sinne gefügt - zumindest, was die Kanzlerschaft angeht. Die schwarze Shuttle-Schlange aus den Limousinen der Hauptverhandler nimmt nach einer langen Nacht um elf Uhr morgens wieder Kurs auf die Parlamentarische Gesellschaft an der Westflanke des Reichstages. Das Volk vom Instant-Fernsehen ist natürlich da und bestreitet weitgehend nichtssagende Aufsager.

Zweiter Mann im Staate

Kurz vor elf sind Angela Merkel und Edmund Stoiber zu diesem Sandwich-Treffen zwischen Präsidium und Parteivorstand in der Geburtsklinik der großen Koalition eingetroffen. In der mittleren Etage hinter den weißen Raff-Rollos warten sie nun auf die beiden SPD-Granden Gerhard Schröder und Franz Müntefering, die man herbeieilen sehen kann, wenn man sich die Nase an der Eingangstür des Jakob-Kaiser-Hauses platt drückt. Von innen gibt es einen Zugang in die "Parlamentarische", der ihnen den Gang durch den Pulk erspart.

Durch diese nämliche Tür des Jakob-Kaiser-Hauses gleich neben der Parlamentarischen Gesellschaft geht Norbert Lammert sehr unbehelligt zu seinem Bundestagsvizepräsidentenbüro. Die Aufsager auf den Betonquadern vor der Parlamentarischen Gesellschaft ignorieren in diesem Moment zu Unrecht Herrn Lammert, weil er sich seit wenigen Minuten, von den Präsidien beider Parteien abgenickt, als neuer Bundestagspräsident und damit zweiter Mann im Staate fühlen darf. Aber da die Nachrichten an diesem Tage sogar die schnellen Kollegen vom Fernsehen überholen, geht Lammert einen leichten Gang in sein neues Leben.

An so einem Tag nehmen politische Schicksale und Karrieren neue Verläufe, wie sich an Lammert, aber auch an vielen anderen nachweisen lässt. Der kulturbeflissene Lammert war in einer schwarz-gelben Koalition gehandelt worden als Kulturstaatsminister im Kanzleramt, ein Posten, über den er sich sehr gefreut hätte. Aber seine Entschädigung ist schließlich vergleichsweise angenehm.

Will Schröder sein eigenes Erbe mitverwalten? (Foto: Foto: ddp)

Der Weg nach draußen

Für andere kommt es dicker an diesem Montag: Da schlendert zum Beispiel Wolfgang Clement am Vormittag durch die Drehtür des Willy-Brandt-Hauses. Ihn hält anscheinend nichts mehr im SPD-Präsidium, das oben noch beieinander sitzt. Hier, in der Parteizentrale, ist er vor gut drei Jahren von Gerhard Schröder zum Superminister für Wirtschaft und Arbeit geformt und allenthalben schon als möglicher Nachfolger des Kanzlers gehandelt worden.

Heute nun führt ihn der Weg frühzeitig nach draußen, und zwar ganz offenbar auch im politischen Sinne. Als er nach seiner Zukunft gefragt wird, antwortet Clement sarkastisch: "Ich werde ausgiebig von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen", was nicht anders zu verstehen ist, als dass für ihn wohl kein Platz mehr sein wird im künftigen Kabinett, was andere Eingeweihte später bestätigen.

Mehr Ärger als Meriten

Bei der Abstimmung im Präsidium hat Clement dem Vernehmen nach gegen den Kompromiss mit der Union gestimmt. Vor allem die Trennung von Wirtschafts- und Arbeitsministerium soll ihm aufgestoßen sein. Überhaupt bietet die Verteilung der Ressorts den ganzen Tag über reichlich Gesprächsstoff unter den Sozialdemokraten.

Im Präsidium wie im Vorstand äußern einige Teilnehmer ihr Unverständnis, oder doch mindestens ihre Skepsis darüber, dass Schröder und Müntefering sowohl das Bildungs- und Forschungs-, als auch das Familienministerium drangegeben haben. Finanzen, Arbeit und Gesundheit sind zwar gehaltvolle Ressorts, deren Chefs sich allerdings neben wenigen Meriten in der Regel auch eine Menge Ärger einhandeln. Die Zukunftsthemen hingegen, mit denen man auch in der Öffentlichkeit punkten kann, gehen an die Union.

Groß ist der Redebedarf im SPD-Parteivorstand, wobei manche Wortmeldung auch als Bewerbung für in den nächsten Wochen zu vergebende Posten und Pöstchen zu verstehen ist. Aus der ursprünglich geplanten Choreographie jedenfalls wird nichts, in der eigentlich vorgesehen war, dass Angela Merkel und Franz Müntefering zwar nicht am selben Ort, wohl aber zur selben Zeit vor die Kameras treten. Der SPD-Chef kommt mit gut halbstündiger Verspätung, und wenn man seinen Auftritt zusammenfasst, so ist zu konstatieren, dass vieles immer unklarer wird, je länger Müntefering redet.

Erst verhandeln, dann reden

Irgendwie ist der SPD-Vorsitzende durchaus zufrieden mit dem, was er und Schröder in den letzten Tagen ausgehandelt haben. Andererseits ist es ihm sehr wichtig zu betonen, wie weit der Weg zu einer großen Koalition noch sei. Einen Baustein habe man nun in der Hand, mehr nicht. Einmal spricht Müntefering vom "Koalitionspartner", korrigiert sich aber umgehend und nennt die Union nur den "potenziellen Koalitionspartner".

Und dann ist da natürlich und fürwahr nicht an letzter Stelle die Personalfrage. Gegen das, was Müntefering in dieser Hinsicht veranstaltet, wirkt ein Nebelwerfer wie ein Halogenscheinwerfer. Über Ministerposten will er gleich gar nicht reden. Erst solle verhandelt werden. Man kann dieses Verhalten wohl getrost als einen typischen Müntefering bezeichnen, der sehr genau weiß, dass er die Partei in der Disziplin zu halten vermag, so lange sich der eine oder andere noch Hoffnungen auf eine Zukunft in der Regierung machen kann.

Auf die Frage nach seiner eigenen Zukunft hält Müntefering einen länglichen Vortrag, der viel mit formalistischem Kleinkram aus der Organisationsstruktur der SPD zu tun hat, aber nichts, gar nichts mit seiner Person. Zu guter Letzt spricht der Parteichef dann auch noch über Gerhard Schröder - und mutiert dabei endgültig zum Orakel von Berlin.

Man muss an dieser Stelle noch einmal ein wenig ausholen, um wenigstens ansatzweise zu verstehen, was sich da abspielt. Immer wieder hat Schröder in den vergangenen Tagen Signale gesetzt, dass er zum Verzicht auf die Kanzlerschaft bereit sei.

Alle Versuche, die Niederlage vom Wahltag doch noch in einen Sieg zu verwandeln, verursachten kleine Stürme, die jedoch die politische Landschaft nicht wirklich zu ändern vermochten. Irgendwann bei den geheimnisumwobenen Vierer-Gesprächen in der Parlamentarischen Gesellschaft hat Schröder seinen Posten dann endgültig drangegeben - mutmaßlich erst sehr spät. Aber ist das wirklich das Ende des Politikers Gerhard Schröder?

Gerd muss gar nichts

Je häufiger Schröder zum Beispiel den Gedanken verwarf, als Vizekanzler unter Merkel sein eigenes Erbe mitzuverwalten, desto größer wurde der Wunsch in seiner Partei, er möge sich das noch einmal anders überlegen. Auch am Montag im Vorstand melden sich wieder mehrere Parteifreunde mit diesem Anliegen, und es fällt auf, dass Franz Müntefering in der Pressekonferenz gleich zweimal hervorhebt, es habe "viele Beiträge gegeben, die voller Sympathie über eine solche Rolle gesprochen haben".

Einer dieser Beiträge, so berichtet es ein Teilnehmer, habe mit den Worten begonnen, "Gerd, Du musst doch...", worauf der Gerd gesagt haben soll: "Ich muss gar nichts. Über mich wird hier nicht verhandelt." Wiederholt wird Schröder an diesem Tag auch mit einem Satz zitiert, dass seine Lebensplanung anders aussehe. Nur anders als was?

Es gilt dabei zu bedenken, dass die Variante Schröder als Außenminister und Vizekanzler auch deshalb einen gewissen Charme auf die SPD ausübt, weil sich niemand für diesen Job aufdrängt. Matthias Platzeck hatte zuletzt kein Mikrofon ausgelassen, um seinen Verbleib in Brandenburg zu versprechen, was einer Selbstankettung auf seinem Stuhl des Ministerpräsidenten gleichkam. Peter Struck dementierte nicht gerade heraus, erweckte aber den Eindruck, er werde es nicht, was, wie zu hören ist, auch damit zu tun haben könnte, dass er Angela Merkel nicht zu nahe kommen möchte. Und Günter Verheugen, der deutsche Kommissar in Brüssel, fiel spätestens seit der Entscheidung, Teile der Europapolitik an Stoibers Wirtschaftsministerium abzutreten, aus dem Spiel.

Ab in die Türkei

In jedem Fall wird Schröder in den nächsten Wochen der sozialdemokratischen Delegation angehören, die mit der Union die Koalitionsverhandlungen führt. Er bleibt also dabei. Am Mittwoch allerdings fliegt er erst einmal in die Türkei, um mit Premierminister Erdogan den Beginn der EU-Beitrittsgespräche zu feiern. Vergangene Woche lud das Bundespresseamt für diese Reise die Berliner Journalisten ein, am Montag indes lud es den Großteil wieder aus. Es ist nicht mehr als ein Indiz, aber eben doch ein Indiz, dass Schröder sich lästiger Fragesteller entledigen wollte - und sei es nur, weil er, was seine politische Zukunft angeht, vielleicht selbst noch keine rechte Antwort hat.

Doch noch einmal zurück zur Union, wo doch vieles an diesem Tag viel klarer erscheint als auf der anderen Seite. Ist dies nun schon der erste Tag, an dem auch die Christdemokraten sich ihrem Schmerz widmen müssen? Der ungeheuren Enttäuschung darüber, dass sie ihr wirklich zentrales Ziel nicht erreicht haben - und zwar die Kanzlerin stellen werden, aber dafür nur gewissermaßen die knappe Hälfte der Regierung.

Drei Wochen lang haben sie nun die Zähne zusammengebissen und ein künstliches Lächeln herausgepresst. Sie spielten weiter für ihre Mannschaft wie ein Fußballspieler, der sich kurz vor Abpfiff die Hand, nein, dazu auch noch die Schulter gebrochen hat und durchhalten muss, weil das Spiel nicht entschieden ist. Und dann wird es doch nur ein ganz knapper Erfolg in der Verlängerung. Nach der Entscheidung wird der Schmerz spürbar. Und es plagt die Frage, ob man mit dieser Hand überhaupt noch etwas anfangen wird können.

In der künftigen Regierung Merkel könnte - diese Sorge ist nun am Montagmittag bei manchen ihrer Parteifreunde zu spüren - die christdemokratische Handschrift nur sehr blass und kraftlos ausfallen. Einige können, als sie nach den Gremien-Sitzungen das Konrad-Adenauer-Haus verlassen, das Gefühl kaum verbergen, dass die CDU einen sehr hohen Preis gezahlt hat für die Kanzlerschaft Merkels und das Superministerium, das für CSU-Chef Edmund Stoiber gezimmert wurde. Ein hoher Preis, was die Posten angeht und die Inhalte.

So werde vom großen "Es-muß-alles-anders-werden"-Reform-Ansatz der Kanzlerkandidatin nicht viel übrig bleiben, klagen manche, die deutliche Schnitte in der Steuer und Haushaltspolitik gewünscht haben. Die vier knappen inhaltlichen Punkte der gemeinsamen Erklärung beider Seiten lesen sich für sie wie kleine SPD-Siege. Der große Schub für den Arbeitsmarkt könne da nicht rauskommen. Und der Abbau von Subventionen werde insgesamt nicht gelingen können, wenn man schon zu Anfang auf die Abschaffung der Steuerfreiheit für Feiertags- und Nachtzuschläge verzichte.

Kein Wunschkonzert

Tatsächlich ist es wohl nicht überraschend, dass einer wie der Arbeitnehmervertreter und nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann die Vorstandssitzung gut gelaunt verläßt, während der frühere Sprecher der Mittelstandsvereinigung Peter Rauen nüchtern feststellt, so eine Koalition sei eben kein Wunschkonzert.

Die Einschätzungen klingen zumeist so trocken wie bei Wolfgang Böhmer, dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, der von einer fairen Einigung spricht und es gar nicht so schlimm finden mag, dass sich kein großer Wurf abzeichnet. Es gebe, sagt er, eben keine Ideallösung für ein ganzes Jahrhundert. Er zollt der Parteichefin Merkel Respekt für ihre Ruhe und Disziplin. Sie werde wohl noch immer von vielen unterschätzt.

Zwischen den eher nüchtern Statements fällt an diesem Tag auf, dass gerade die Vertrauten und Freunde von Angela Merkel viel lächeln oder sogar große Heiterkeit zeigen wie Annette Schavan, die fast aufgekratzt von einem großartigen Tag spricht.

Auf Augenhöhe

Ganz offen sagt Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus, ein Freund Merkels, dass es ja vor allem wichtig sei, die Frage der Kanzlerschaft geklärt zu haben. Das wäre für die Richtung der Regierungspolitik ganz entscheidend. Und dann weist er plötzlich darauf hin, dass SPD und CDU doch auf Augenhöhe seien. "Wir sind ja im wesentlichen gleich stark", wägt er das Verhältnis zur SPD. Das klang bis zu diesem Morgen, seit dem die beiden großen Volksparteien offen in einem Boot sitzen wollen, bei der Union wahrlich noch ganz anders.

(SZ vom 11.10.2005)

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