Leben vor und nach dem Tod:Herr, es stinkt schon

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Der tote Lazarus ist angeblich wieder zum Leben erweckt worden. Und wie erging es ihm dann? Zwanzig Millionen Lazarusse verhungern heutzutage. Wer gibt ihnen wieder das Leben?

Von Heribert Prantl

Von allen furiosen Geschichten im Neuen Testament ist die Geschichte vom Lazarus aus Betanien die furioseste: Jesus holt den toten Lazarus zurück ins Leben. Der ist schon seit vier Tagen tot, Jesus lässt den Stein vor der Grabhöhle wegwälzen. Die Schwester des Verstorbenen warnt: "Herr, er stinkt schon." Der Evangelist Johannes schildert genau, wie Jesus ruft und befiehlt, und wie Lazarus dann aus der Höhle herauswankt, "gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen". Von der Auferstehung des Jesus Christus sagt die Bibel nichts so Genaues. Man erfährt, dass sie geschehen ist, aber nicht, wie. Die Geschichte vom Lazarus erzählt aber auch das Wie. Das Furiose daran sind nicht nur die anstößig-spektakulären Details. Das Furiose ist, dass nicht von der Auferweckung in ein jenseitiges Leben erzählt wird, sondern ins diesseitige. Hier wird einem, der tot und begraben ist, seine irdische Zukunft zurückgegeben. Ein zweites Leben wartet und ein zweiter Tod.

Man kann dieses unglaubliche Lazarus-Ostern kaum glauben. Trotzdem ist die Geschichte jahrhundertelang erzählt worden, zig Millionen Mal, in allen Sprachen der Erde - als Beispiel für die Macht Gottes, als Ankündigung und Vorspiel der Auferweckung aller Menschen irgendwann, am jüngsten Tage. In zig Millionen Trauerfeiern sollte und soll diese Auslegung Trost sein, zig Millionen Mal war sie Anker für Hoffnung, Sehnsucht und unerschütterlichen oder verzweifelten Glauben daran, dass mit dem Tod vielleicht doch nicht alles aus ist. Glauben an ein neues Leben? Milliarden Menschen täten das gern, halten das aber für grandiosen Selbstbetrug - als Trost nicht tauglich, sondern nur als billige Vertröstung.

Zu dick trägt die Lazarus-Geschichte auf, als dass der moderne Mensch sie nicht belächeln möchte als religiösen Klamauk. Selbst wenn man sie glaubte: Was bringt es, wenn ein Glücklicher namens Lazarus dem Tod entkam? Lazarus ist indes - wie Adam, Noah oder Hiob - mehr als er selbst; er ist "der" Mensch in einer bestimmten Situation; Lazarus aus Betanien, zu Deutsch "Gotthilf aus Armenhaus", ist der Mensch, dessen Existenz mehr Tod ist als Leben, dessen Wesen ein Verwesen ist, dessen Elend zum Himmel stinkt. Es gibt viele Lazarusse, damals und heute.

Nirgendwo in der Bibel steht, wie es dem Lazarus dann in seinem zweiten Leben erging; es gibt Legenden; Gräber von ihm werden gezeigt; Dichter haben das Ganze weitergedichtet, sie lassen Lazarus erzählen, wie es gewesen sei in den vier toten Tagen; manche haben aus der Hoffnungsgeschichte eine der Hoffnungslosigkeit gemacht, haben von einem Lazarus erzählt, der nicht mehr lacht, von dessen Blick man sich wie von einem Aussätzigen abwendet. Es gibt Erzählungen, in denen es Lazarus im zweiten Leben nicht aushält und sich erhängt. Es gibt aber auch ein Schauspiel von Eugene 0'Neill, in dem ein lachender Lazarus die Menschen für das irdische Leben begeistern und von der Sehnsucht nach dem Leben post mortem abhalten will: Ein Leben nach dem Tod soll kein Narkotikum sein, um den Problemen der Gegenwart zu entfliehen.

Es gibt eine zweite biblische Lazarus-Geschichte, eine, die nach der Kraft zum Leben vor dem Tod schreit. Sie steht beim Evangelisten Lukas. Der Arme dort heißt auch Lazarus. Ist das ein Zufall? Es hat seinen Reiz, sich diese Geschichte als Fortsetzung der Auferweckungsgeschichte vorzustellen - als das traurige zweite Leben des Lazarus: Er liegt vor der Tür des reichen Mannes, voll von Geschwüren und lebt von Brosamen, die von dessen Tisch fallen, während die Hunde des Reichen ihm die Geschwüre lecken. Anschaulicher kann man den Tod bei lebendigem Leib kaum beschreiben. Deutlicher kann man kaum zeigen, dass es nicht reicht, auf das bessere Leben im Jenseits zu warten. Aber dieses religiöse Ruhekissen ist ohnehin dünn geworden. Wer glaubt schon noch daran, dass der Arme am Ende von Engeln in Abrahams Schoß getragen wird?

Vertröstung funktioniert nicht mehr. Und doch wartet der Lazarus von heute weiter vergeblich, dass sich etwas ändert: Die Reichen bleiben reich, die Armen bleiben arm - und die Hunde des Reichen lecken dem Armen die Wunden. Wie die Hunde hießen, sagt die Bibel nicht. Heute haben sie viele Namen: AWO, Rotes Kreuz, Lions Club und Rotary; sie tragen auch christliche Namen: Samariter, Caritas, Diakonie. Sie verschaffen dem Lazarus von heute Linderung; sie tun ein gutes Werk.

Jetzt schlagen sie auch einmal Krach. Die Hilfswerke und mit ihnen die Vereinten Nationen fordern Hilfe: 20 Millionen Lazarusse leben am Abgrund des Hungertodes - in Jemen, im Südsudan, in Somalia und Nigeria. Die UN sprechen von der größten humanitären Katastrophe seit 1945. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. In der Zeit, die man zum Lesen dieses Leitartikels braucht, verhungern also 84 Kinder. Soll man sich damit trösten, dass nach dem Hungertod dieses kurzen Lebens das lange ewige Leben wartet?

Hedgefonds machen irre Profite mit der Spekulation auf Grundnahrungsmittel und treiben die Weltmarktpreise in die Höhe. Das führt dazu, dass das UN-Welternährungsprogramm nicht genügend Nahrung kaufen kann. Es wäre eine österliche Aktion, wenn die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel verboten würde. Damit aber Lazarus nicht zuvor seinen zweiten Tod stirbt, müssen die reichen Länder ihre zugesagten Beiträge leisten und die benötigten vier Milliarden Dollar für Soforthilfe bereitstellen. Noch zynischer als die religiöse Jenseitsvertröstung ist die säkulare Jenseitsvertröstung, nämlich die Behauptung, diese Hilfe läge jenseits der Möglichkeiten der Geberländer.

Der Glaube, dereinst zum besseren Leben auferweckt zu werden, ist kaum mehr Trost für die, denen es dreckig geht. Alles Glück, auch alle Gerechtigkeit, die man zu erwarten hat, muss man sich im Diesseits erfüllen - oder gar nicht. Und so bleibt es für viele beim "gar nicht". Die alte Vertröstung auf ein Jenseits ist diesseitigen Vertröstungen gewichen. Es bleibt die metaphysische Obdachlosigkeit; es bleibt aber auch die Sehnsucht, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Es bleibt, sich am Ende von seinen Lieben zu verabschieden mit der Hoffnung, sie wiederzusehen.

© SZ vom 15.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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