Kultur:Bertolt Brecht frei Haus

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Viele Bühnen streamen derzeit Schätze aus ihren Archiven. Eine einmalige Chance, Theatergeschichte nachzuholen.

Von Christine Dössel

Was für ein Stress wieder in der vergangenen Woche! Von einem Theater zum anderen, von einer Aufführung zur nächsten. So viel Interessantes gleichzeitig. Was mitnehmen? Was auslassen? Ständig das Gefühl, etwas zu verpassen.

Die Theater sind zwar coronakrisenbedingt zu, aber untätig sind sie nicht. Sie haben die virtuelle Bühne für sich entdeckt, seitdem senden und streamen sie wie die Weltmeister. Kaum ein Haus, das nicht "Homestories", Schauspielervideos, szenisch-musikalische Schnipsel auf seine Internetseite stellt. Einige basteln an eigenen digitalen Formaten, experimentieren mit interaktiven Performances, Zoom- und Live-Cam-Aufführungen. Und wer hat und kann, der öffnet sein Archiv und stellt dem darbenden Publikum Inszenierungen aus der Geschichte seines Hauses zur Verfügung. Das geht natürlich nur, wenn Aufzeichnungen, Mitschnitte oder gar Verfilmungen vorliegen. Wer hätte gedacht, wie viele es davon gibt, welche Schätze da nun online zutage kommen.

Vorreiter war die Berliner Schaubühne. Die streamt schon seit März jeden Abend ein Stück, mal aktuelle Inszenierungen wie "Hamlet", "Volksfeind", "Rückkehr nach Reims" vom künstlerischen Leiter Thomas Ostermeier; dann wieder die berühmten alten Sachen von Peter Stein und den Seinen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren. Meilensteine der Theatergeschichte wie "Sommergäste", "Drei Schwestern", "Die Orestie". Nach Auskunft des Hauses sind es manchmal 20- bis 40 000 Abrufe pro Angebot. Es ist ein "Ersatzspielplan", der auch international auf großes Interesse stößt, vom Londoner Time -Out-Magazin angekündigt mit den Worten: "The world's coolest theatre is streaming a play every night for free."

Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" in der Aufzeichnung von 1957 ist ein Highlight

Längst streamen auch andere Häuser wie das Thalia-Theater Hamburg, das Wiener Burgtheater oder das Deutsche Theater Berlin, das Archivstücke aus dem DDR-Theater im Angebot hat. So entbehrungsreich die Corona-Krise für Theaterfans ist - ihre schwer vermisste Kunst lebt nun mal von der Livehaftigkeit, dem gemeinsam geteilten Raum und Atem -, so einzigartig sind jetzt die Chancen, Verpasstes nachzuholen, Theaterwissen aufzufrischen, sich mit Theatergeschichte zu beschäftigen. Und das völlig (reise)kostenlos und barrierefrei. Die Theater müssen zwar Tantiemen bezahlen, aber die Rechteinhaber - Verlage oder Fernsehsender wie ZDF/3sat - seien da momentan sehr kulant, heißt es. Weil Krise ist, und weil die Bühnen am Streaming ja nichts verdienen.

Ein besonderes Highlight im virtuellen Theatergeschichtskurs bietet das Berliner Ensemble (BE) nun eine Woche lang in seinem Programm "BE at home": Bertolt Brechts Antikriegsstück "Mutter Courage und ihre Kinder" in der legendären Modell-Inszenierung, die Brecht 1949 selber gemeinsam mit Erich Engel geschaffen hat. Eine Arbeit, die beispielhaft war für Brechts Konzeption von einem "epischen Theater". In der Titelrolle: Helene Weigel. Es handelt sich um eine Aufzeichnung des DDR-Fernsehens von 1957, die noch nie einer größeren Öffentlichkeit gezeigt wurde. Erdmut Wizisla, Leiter des Brecht-Archivs, nennt das "eine kleine Sensation". Es sei eine Version, bei der man unmittelbar erleben könne, "wie Brecht gearbeitet hat". Also dann Bildschirm an und Vorhang auf!

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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