Krise der Hessen-SPD:Kehrtwende in letzter Sekunde

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Die Abweichler in der hessischen SPD haben Andrea Ypsilantis Pläne lange Zeit nicht nur mitgetragen, sondern zum Teil aktiv mitgestaltet. Eine Chronologie des Debakels.

Christoph Hickmann

Hessen steht vor einer Neuwahl; den Ausschlag haben die SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger, Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts mit ihrer Entscheidung gegeben, Landeschefin Andrea Ypsilanti die Stimme zu verweigern. In der ARD-Sendung "Beckmann" begründeten sie am Montag nochmals ihren Entschluss: Ihnen sei es darum gegangen, eine Regierung unter Beteiligung der Linken zu verhindern. Doch am Versuch der Regierungsbildung waren zumindest zwei von ihnen, Walter und Everts, zeitweise aktiv beteiligt.

Von Anfang an Misstrauen: Jürgen Walter und Andrea Ypsilanti. (Foto: Foto: ddp)

Samstag, 14. Juni: Der SPD-Bezirk Hessen-Süd kommt in Neu-Isenburg zum Parteitag zusammen. Walter verteidigt seinen jüngsten Vorstoß für eine große Koalition: Seine Bereitschaft, mit der Linken zusammenzuarbeiten, sei in den vergangenen Monaten "jedenfalls nicht größer geworden". Auch Everts redet: Sie habe noch immer "große Probleme" mit der Linken, müsse Walter aber widersprechen. In einer großen Koalition sei "ein Politikwechsel sicherlich nicht möglich". Nach der Sommerpause müsse man "unaufgeregt" versuchen, sich auf ,,den Weg zu begeben": "Wir wollen alle eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung unter Andrea Ypsilanti."

Montag, 14. Juli: In der SPD-Landesgeschäftsstelle treffen sich Gerrit Richter und Norbert Schmitt. Richter ist Sprecher der hessischen Netzwerker; Schmitt, Generalsekretär der Landes-SPD, zählt zu den Parteilinken um Ypsilanti. Richter hat den Anstoß zu dem Treffen gegeben; beide sind der Meinung, dass es so nicht weitergehen könne, dass es einen zweiten Anlauf Richtung Rot-Grün-Rot geben müsse. Dafür sollen beide Parteiflügel zusammenfinden. Das Misstrauen sitzt tief, seit Ypsilanti sich Anfang Dezember 2006 in Rotenburg im Kampf um die Spitzenkandidatur gegen Walter durchsetzte. Richter und Schmitt kommen überein, dass Walter und Ypsilanti sich an einen Tisch setzen müssen.

Montag, 28. Juli: In der "Bauernschänke" in Eschborn setzen sich Vertreter beider Parteiflügel zusammen. Für die Parteilinke kommen Schmitt und Gernot Grumbach, Chef des Bezirks Hessen-Süd. Die andere Seite wird vertreten durch Richter, die Bundestagsabgeordnete Nina Hauer, die Landtagsabgeordnete Nancy Faeser und Carmen Everts. Sie arbeiten die Verletzungen seit Rotenburg auf, die Atmosphäre ist gelöster als je in den eineinhalb Jahren zuvor. Es geht dann um den Plan, den für 13. September geplanten Parteitag hinter die bayerische Landtagswahl am 28. September zu schieben. Beim Parteitag sollen Koalitionsverhandlungen mit den Grünen beschlossen werden, deshalb fürchtet auch die Bundes-SPD das Signal vor der Bayernwahl. Es geht außerdem um die Rolle des Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer, eine der tragenden Säulen in Ypsilantis Wahlkampf. Er soll Wirtschafts- und Umweltminister werden; Schmitt und Grumbach betonen, dass sie an ihm festhalten wollen. Die Netzwerker schlagen Walter als Wirtschaftsminister vor, doch es geht auch erstmals um die Überlegung, ihn zum Infrastrukturminister zu machen. Die Sache bleibt offen, aber bereits jetzt ist klar, dass die Personalfragen schwierig werden. Die Partei, so plant es die Runde, soll bald auf Regionalkonferenzen über Rot-Grün-Rot diskutieren; zudem soll es einen Katalog von Kriterien geben, welche die Linke vor einer Zusammenarbeit erfüllen muss. Walter und Ypsilanti sollen sie gemeinsam vorstellen. Grumbach gibt zu bedenken, dass es nach einem Scheitern Neuwahlen gebe. Der Prozess, darin sind sich alle einig, soll "ergebnisoffen" sein.

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Montag, 4. August: Wieder trifft sich die Runde in der Bauernschänke, diesmal mit Ypsilanti und Walter. Ypsilanti hat zu diesem Zeitpunkt schon viele Einzelgespräche mit Abgeordneten geführt. Richter stellt das Personalpaket der Netzwerker vor: Sie wollen drei Ministerien und den Fraktionsvorsitz; im Landesvorstand wollen sie stärker vertreten sein, auf der Liste der Vorschläge steht auch Teschs Name. So soll die Zustimmung beider Lager gesichert werden. Walter gibt sich zurückhaltend; er sagt, dass er den Prozess eigentlich nicht wolle, aber keine andere Chance sehe. Wieder geht es um Scheer und ihn, wieder bleibt die Frage offen. Am Ende sagt Schmitt, dass es eine Lösung geben werde.

Sahen Rot-Grün in Hessen bereits in trockenen Tüchern: Andrea Ypsilanti und Tarek Al-Wazir. (Foto: Foto: Reuters)

Mittwoch, 6. August: Die "Aufwärts-Runde" der Netzwerker und Parteirechten in der Fraktion trifft sich zur Klausur. Ypsilanti ist zu Gast, sie sagt, dass es zwei Optionen gebe: Neuwahlen oder einen zweiten Anlauf. Sie glaube daran, dass außer Metzger alle im Raum für sie stimmen würden. Die Runde beschließt, den "ergebnisoffenen Prozess" mitzutragen und aktiv mitzugestalten.

Mittwoch, 13. August: Der SPD-Landesvorstand beschließt den weiteren Weg: Am 4. Oktober soll ein Parteitag über Koalitionsverhandlungen abstimmen. Im Erfolgsfall soll ein Parteitag am 1. November das Bündnis besiegeln. Zuvor wird es Regionalkonferenzen geben.

Mittwoch, 3. September: Der SPD-Landesparteirat beschließt einstimmig einen Kriterienkatalog für die Gespräche mit der Linken; Ypsilanti und Walter stellen ihn öffentlich vor. Darin findet sich die Position, dass eine SPD-geführte Regierung den Planfeststellungsbeschluss zum Ausbau des Frankfurter Flughafens nicht mehr antasten und um ein absolutes Nachtflugverbot ergänzen wird, sofern er vor Gericht Bestand hat. Walter hat dies durchgesetzt. Grüne und Linkspartei fühlen sich provoziert und äußern erwartungsgemäß heftige Kritik.

Dienstag, 30. September: In der SPD-Fraktion kommt es zur Probeabstimmung. Ypsilanti macht zuvor klar, dass der Weg beendet werde, sollte es über Metzger hinaus eine Enthaltung oder Neinstimme geben. Walter sagt, dass die eigentliche Entscheidung am 1. November falle. Er schließe nicht aus, dass er gegen den Vertrag stimmen werde, seien zentrale SPD-Anliegen nicht enthalten. Der Text des Stimmzettels: ",Ich bin bereit, Andrea Ypsilanti in geheimer Wahl zur Ministerpräsidentin einer rot-grünen Koalition zu wählen und ihrem Kabinett das Vertrauen auszusprechen. Voraussetzung hierfür ist für SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Zustimmung der jeweiligen Parteigremien zu einem Koalitionsvertrag und eine verbindliche, schriftlich niedergelegte Unterstützung durch die Partei Die Linke." Metzger enthält sich, alle anderen stimmen mit Ja.

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Samstag, 4. Oktober: Beim Landesparteitag in Rotenburg nennt Walter die Vorbereitung des zweitens Anlaufs ein "Vorbild für innerparteiliche Demokratie". Er sagt:"Lasst uns heute die Ampel auf grün stellen, damit wir die Chance haben, dass dieses Land wieder rot wird." Etwa 97 Prozent der Delegierten stimmen für Koalitionsverhandlungen. Walter beteiligt sich konstruktiv an ihnen.

Donnerstag/Freitag, 23./24.: Oktober: In der letzten Nacht der Verhandlungen vereinbart Ypsilanti mit dem Grünen-Landeschef Tarek Al-Wazir, dass er Umweltminister und Scheer Wirtschaftsminister wird. Ypsilanti bietet Walter das Ministerium für Verkehr und Europa an. Er reagiert ablehnend, sagt dann aber, er müsse dies mit seiner Gruppe besprechen. Am Morgen steht seine Ablehnung. Auf Ypsilantis Frage, ob er sie wählen werde, antwortet er mit Ja. Er sitzt erst mit Vertrauten zusammen; dann gibt es ein Gespräch mit Ypsilanti und Schmitt. Es geht um die Verteilung der Kabinettsposten nach Walters Ausstieg. Am Ende sagt Walter seinen Leuten, sie sollten Ypsilantis Angebot annehmen. Sie sind dennoch empört, auch Tesch und Everts. Everts sagt öffentlich, es sei "ein falsches Signal nach innen und außen", dass er nicht dabei sei. Das ihm angebotene "Rumpf-Ressort" habe er nicht annehmen können. Dies sei "eine Belastung für den Prozess der Regierungsbildung". In den Tagen danach kritisiert Walter, provoziert durch eine Bemerkung Grumbachs, den von ihm mitverhandelten Beschluss zum Ausbau des Frankfurter Flughafens.

Dienstag, 28. Oktober: In der SPD-Fraktion sagt Everts, dass Ypsilanti das angestrebte "Gesamtbild" zerstört habe, mit dem beide Flügel eingebunden werden sollten. Eine "historische Chance" sei verpasst worden. Walter sagt, dass man den Koalitionsvertrag nochmals in Gänze zu bewerten habe. Am Ende fragt Ypsilanti, ob alle den vorgeschlagenen Weg mitgehen könnten. Niemand äußert Gegenteiliges. Am Ende der Woche treffen sich Tesch und Everts in Teschs Heimatort und besuchen dann den ehemaligen SPD-Innenminister Gerhard Bökel.

Samstag, 1. November: Beim Parteitag in Fulda redet Walter gegen den Koalitionsvertrag, nimmt aber nicht an der Abstimmung teil, ebenso wenig wie Everts. Everts sagt, sie hätte sich enthalten, wäre sie in der Halle gewesen. Sie begründet dies mit ihren Bedenken wegen der "Einbeziehung der Stimmen der Linkspartei". Tesch enthält sich auch und begründet dies mit den Koalitionsbeschlüssen zu wichtigen Infrastrukturprojekten. Der Parteitag stimmt dem Vertrag mit überwältigender Mehrheit zu.

Montag, 3. November: Metzger, Walter, Tesch und Everts erklären einen Tag vor der geplanten Wahl im Landtag, Andrea Ypsilanti die Stimmen zu verweigern.

© SZ vom 12.11.08/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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