Kommentar:Verpatzter Auftakt

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Alpen-David gegen EU-Goliath: Österreich gibt den Weg für EU-Verhandlungen mit der Türkei erst nach langem Zögern frei - und beschädigt damit die Glaubwürdigkeit der EU.

Christiane Schlötzer

Nachdem der türkische Belagerungsring um die Stadt Wien 1683 gesprengt war, mussten 20.000 Türken in Gefangenschaft. Sie blieben in Wien und wurden, mitsamt Halbmond-Kipferl und Kaffee, assimiliert. Im Wiener Blut ist daher auch türkisches.

Das könnte erklären, warum Österreich auf dem EU-Außenministertreffen in Luxemburg wie ein orientalischer Bazarhändler aufgetreten ist, der ständig eine neue Ware aus dem verstaubten Hinterzimmer hervorzaubert. Erst wollte Wien, dass die EU nur Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führt, wenn sie den Beitritt als Ziel gar nicht mehr nennt.

Das war schlichtweg absurd, weil es dem EU-Vertrag widersprochen hätte. Der kennt Verhandlungen über ein Alternativkonzept, eine bislang völlig vage definierte privilegierte Partnerschaft, gar nicht.

Als die anderen 24 EU-Staaten dies nicht akzeptierten, gebar Wien die nächste fixe Idee. Die Aufnahmefähigkeit der EU sollte noch einmal extra im Verhandlungsdokument verankert werden. Das aber stand längst drin.

Am Ende verstanden selbst ausgefuchste Brüssler Diplomaten nicht mehr, was Wien wollte, zumal auch Wolfgang Schüssel EU-Gespräche mit dem seit 40 Jahren wartenden Dauer-Kandidaten Türkei schon zweimal feierlich gebilligt hatte, bei Gipfeln im vergangenen Dezember und im Juni 2005.

Späte Mission

Österreichs Kanzler aber sah sich jetzt in einer spät entdeckten Mission. Er wollte wie Alpen-David gegen EU-Goliath die EU-Chancen Ankaras im Keim ersticken, in der Hoffnung, die EU werde ihm schon folgen, angesichts von Umfragen, die zeigen, dass Ankaras EU-Ambitionen in ganz Europa mit gemischten Gefühlen gesehen werden.

Mit dieser populistischen Wetter-Wende kurz vor dem schon terminierten Freuden-Feuerwerk für die Türkei hat Wien die Glaubwürdigkeit der EU stark beschädigt. Welches Unions-Mitglied muss sich künftig noch an Gipfelbeschlüsse halten?

Welcher künftige EU-Bewerber mag sich auf eine solche Zitterpartie einlassen? Spätestens als der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan am Montagnachmittag US-Außenministerin Condoleezza Rice telefonisch um Vermittlung in Luxemburg bat, muss den EU-Außenministern die Peinlichkeit ihrer Entscheidungsblockade und damit ihrer Machtlosigkeit wieder einmal schmerzlich bewusst geworden sein.

Der einzige Trost für die Türkei ist, dass der pünktliche Beginn der Verhandlungen nun nicht an Ankara gescheitert ist. Dies gab der Türkei und der EU noch die Möglichkeit, den verpatzten Auftakt in letzter Sekunde zu reparieren. Hätte die EU das Ziel, die Türkei eng an Europa anzubinden, fallen lassen, hätte sie eine historische Chance zur Sicherung von Stabilität und Ressourcen in einer politisch bedeutsamen und wirtschaftlich aufstrebenden Region vergeben.

Die Türkei aber würde sich ebenso schaden, sollte sie den Gefühlen von Enttäuschung nachgeben und vom großen Ziel ihrer Westintegration abrücken. Denn das Land Atatürks hat von seiner bisherigen Annäherung an die EU schon trefflich profitiert.

Wie ein Katalysator hat die EU-Option die Türkei verändert. Sie hat den Aufstieg der Reformpartei von Regierungschef Tayyip Erdogan ermöglicht. Die Reformen, die das Land in den letzten fünf Jahren erlebt hat, entsprechen einer Revolution mit demokratischen Mitteln.

Die Gesellschaft hat sich geöffnet und Tabus abgestoßen. Der Bewerber vom Bosporus hatte zuletzt so unterschiedliche EU-Fürsprecher wie den armenischen Patriarchen aus Istanbul und den exklusiven Club der türkischen Business-Elite.

In der Wirtschaft schlägt sich die Aufbruchstimmung in Wachstumsraten nieder, von denen EU-Europa nur träumt. Bei der Privatisierung korruptionsanfälliger Staatsbetriebe geht es Schlag auf Schlag, wobei ausländische Investoren überall mitbieten. Die Angst vor dem Armenhaus Türkei könnte sich bald in die neue Sorge vor der türkischen Dynamik und dem Unternehmergeist einer jungen Bevölkerung verwandeln.

Dass die Türkei gute Chancen hätte, auch ein Ende ihrer EU-Ambitionen ohne heftige ökonomische Einbrüche zu überstehen, hat sie eben jenen Reformen zu verdanken, die Ankara für die EU unternommen hat. Die EU könnte stolz auf eine solche Transformation sein, die allein der Traum von der Mitgliedschaft in ihrer Union bewirkt hat.

Wiener Wortklaubereien

Stattdessen aber verhedderte sich die Gemeinschaft in Wiener Wortklaubereien. Die EU-Ost-Erweiterung hat Europa entgegen allen Unkenrufen nicht einstürzen lassen. Für die letzten großen EU-Krisen - die gescheiterte Verfassung, den Haushaltsstreit und nun den verpatzten Türkei-Auftakt - sind nicht die neuen EU-Länder verantwortlich.

Eine Ausnahme machte allein Zypern, das am Montag seinen Dauerzwist mit der Türkei auch noch für eine Komplizierung eines Kompromisses zu nutzen suchte.

Die EU und die Türkei haben immer noch eine gemeinsame Chance. Ankara darf sich jetzt nicht hinter seinem Nationalstolz verbunkern, der passt nämlich auch nicht zu Europa. Die Türkei-Skeptiker in Österreich aber sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Türken schon seit 322 Jahren nicht mehr mit Krummschwertern vor ihrer Hauptstadt stehen.

© SZ vom 4.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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