Kommentar:Koalition der Liebe und Hiebe

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Trügerische "Wir-haben-uns-alle-lieb-Stimmung": Die Nähe der Parteispitzen täuscht darüber hinweg, wie fern sich die Politiker von Union und SPD oft noch sind.

Ulrich Schäfer

Der Koalitionsvertrag ist unterschrieben, und alle, die dabei waren, haben so getan, als seien sie nun dicke Freunde. Es mag ja auch dienlich sein, dass Angela Merkel sich mit Matthias Platzeck und Franz Müntefering versteht und letzterer das Vertrauen von Edmund Stoiber genießt, welches Merkel fehlt.

Es mag dem Koalitionsklima dienen, wenn Peer Steinbrück die offene Kommunikation der künftigen Kanzlerin lobt und diese dem Finanzminister attestiert, er sehe die Probleme des Landes ähnlich wie sie.

Dies könnte dazu beitragen, dass es in den nächsten Monaten nicht so sehr rumpelt wie 1998, als SPD und Grüne erst mal lernen mussten, miteinander zu regieren. Doch die Wir-haben-uns-alle-lieb-Stimmung der Parteispitzen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Union und SPD sich in der zweiten, dritten oder vierten Reihe längst nicht so nahe sind.

Streit um semantische Feinheiten

Aber auch inhaltlich müssen die Fußtruppen erst zueinander finden, wie Scharmützel der letzten Tage zeigen. Gleich zu Beginn stritt man über die bizarre Frage, was unter einem verfassungswidrigen Haushalt zu verstehen sei. Vordergründig ging es dabei um große Politik, tatsächlich stritt man um semantische Feinheiten.

Die Union hob darauf ab, dass die Schulden 2006 höher als die Investitionen sein würden, was im Umgangsdeutsch als verfassungswidrig bezeichnet werde. Die SPD wiederum verwies darauf, dass es im Grundgesetz eine Ausnahmeklausel für Krisenzeiten gebe und der Etat im Sinne der Juristen doch der Verfassung entspreche.

Von ähnlicher Qualität ist der Konflikt, der auf dem Feld der Gesundheitspolitik entbrannt ist. Ulla Schmidt beharrt darauf, den Kreis der Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung auszuweiten. Sie will zudem die Arzthonorare für Privat- und Kassenpatienten angleichen und begründet dies mit Formulierungen aus dem Koalitionsvertrag.

Die Union wiederum behauptet, dies gebe der Text nicht her und hat die Sozialministerin im Verdacht, durch die Hintertür doch die Bürgerversicherung der SPD einführen zu wollen, was diese allerdings bestreitet. Die Verbands- und Ständevertreter heizen mit ihrem begleitenden Krakeele den Konflikt weiter an und hoffen offenbar, dass sich nichts zu ihren Ungunsten verändert, wenn beide Seiten sich streiten.

Union und SPD haben in den letzten Wochen einen gemeinsamen Text formuliert, doch es zeigt sich gleich zu Beginn, dass sie ihn in entscheidenden Passagen anders interpretieren und sich mithin im Denken immer noch unterscheiden.

Merkel und Müntefering wird es obliegen, solche Zwistigkeiten zu beenden, ehe sie der Koalition dauerhaften Schaden zufügen. Sie müssen darauf achten, dass wenigstens am Kabinettstisch das Klima so sachlich sein wird, wie es zum Schluss am Verhandlungstisch war. "Gemeinsam für Deutschland" steht über dem Koalitionsvertrag. Der Beweis, dass Union und SPD tatsächlich dazu fähig sind, muss erst noch erbracht werden.

© SZ vom 19.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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