Kommentar:Eine Grenzfrage

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Die EU darf kein einziges Land mehr aufnehmen, ehe sie sich eine neue Verfassung gegeben hat - politisch und finanziell. Warum eine überhastete Erweiterung die Zukunft der Europäischen Union gefährdet.

Alexander Hagelüken

Und wieder führen die Hohepriester der political correctness das Wort. Sie sitzen in der Brüsseler Kommission und in manchem Mitgliedsstaat. Sie versuchen eine Debatte zu unterdrücken, die EU-Aspiranten missfällt: Wie viele Staaten kann die Europäische Union überhaupt noch aufnehmen? Und unter welchen Voraussetzungen?

Jetzt ist nicht die Zeit für falsche Rücksichtnahme: Europas Regierungschefs müssen sich dieser Auseinandersetzung stellen, auf dem Brüsseler Gipfel und danach. Denn die EU wird sich durch überhastete Erweiterungen lediglich lähmen.

Schon Rumänien und Bulgarien werden von vielen Europäern nur unwillig in den Club aufgenommen. Zu arm sind die Neulinge und zu korruptionsgefährdet im Angesicht der Milliardenströme aus Brüssel. Nun rächt es sich, dass die Regierungschefs die EU-Finanzen unreformiert ließen.

Dazu kommt ein politischer Mangel: Der Union fehlt die Struktur, um als 27er-Gemeinschaft zu funktionieren. Bereits für die jüngste Erweiterung hätte es der Verfassung bedurft, um Entscheidungen im neuen Riesenverein zu beschleunigen.

Politische Unruhe in Osteuropa

Schwierigkeiten macht nicht nur die schiere Zahl der Länder, sondern auch die politische Unruhe in Osteuropa. Alle paar Monate wird die EU von einer der wechselnden Regierungen in Warschau blockiert. Mal geht es um mehr Geld aus Brüssel, mal um die Mehrwertsteuer, derzeit um das neue Abkommen mit Russland. Die Einzelstaaten besitzen zu viel Erpressungsmacht.

Die Union darf deshalb kein einziges Land mehr aufnehmen, ehe sie sich eine neue Verfassung gegeben hat - politisch und finanziell. Das gilt für die westlichen Balkanstaaten, und erst recht für die Türkei.

Spätestens für diesen sperrigen Kandidaten benötigt die Union Regeln, die über den bisherigen Verfassungsentwurf hinausgehen (der ja den Staaten noch viel Souveränität lässt). Weil dies viel Kraft erfordert und Jahre dauern wird, hat Angela Merkel recht: Einigen Aspiranten sollte eine Kooperation angeboten werden, die vorerst nicht in einen Beitritt mündet.

Auf Kernfrage konzentrieren

Eine solche Strategie würde den Blick lenken auf die Kernfrage: Wie viel Erweiterung verkraftet die Europäische Union? Die neue Perspektive ist unverzichtbar, wenn Europa seinen Charakter behalten will: als politische Kraft, die stark genug ist für alle Probleme, die den Nationalstaat in der globalisierten Welt überfordern - ob Terror, Armutsflüchtlinge, Energieversorgung oder Klimaschutz.

Dafür wird die EU nur gemeinsam Lösungen finden, wenn sie effiziente Entscheidungswege beschließt und für die Nettozahler finanzierbar bleibt.

Eine schrankenlose Erweiterung dagegen degradiert die Union zur Freihandelszone ohne politische Einheit. Dies wäre das britisch-amerikanische Modell: Die EU bindet möglichst viele Staaten ein, ohne sich zu integrieren - ein sicheres Rezept für Schwäche. Es ist an der Zeit, dass Deutschland und Frankreich einen anderen Kurs vorgeben.

© SZ vom 15.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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