Kolumne:Wohnen

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Flüchtlinge brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf. Die billigen Modulbauten, die jetzt geplant werden, schaffen daher Probleme in der Zukunft.

Von Carolin Emcke

Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden", schrieb Friedrich Engels im Jahr 1872 in "Zur Wohnungsfrage", einer Artikelreihe, die in der Leipziger Zeitung Der Volksstaat veröffentlicht wurde. Die historische Konstellation ist gegenwärtig eine andere, dennoch stellt sich die Wohnungsfrage durch den (nicht gar so plötzlichen) Andrang der Geflüchteten heute so dringlich wie damals.

Und sie stellt sich eben nicht nur als Frage des Wohnraums für die Neuankömmlinge aus Syrien oder aus dem Irak, sie stellte sich davor schon seit Längerem für all jene, die unter dem kolossalen Anstieg der Mietpreise in den Städten zu leiden haben und auch für jene, die überhaupt ein Unterkommen suchen müssen. Städtische Proteste entzündeten sich von Istanbul bis New York immer wieder an unzureichendem Wohnraum oder Prozessen der Verdrängung. Nicht die Geflüchteten der Gegenwart (und ihre Unterbringung) geben also Anlass zur Sorge, sondern die politischen Versäumnisse der Vergangenheit, die durch sie lediglich sichtbarer werden.

Zwischen 2010 und 2014 wurden in Deutschland 310 000 Wohnungen zu wenig gebaut

Soziale Ungleichheit zeigt sich nicht erst in Wohnungsfragen, Wohnungs- wie Bildungspolitik erzeugen sie auch: Ob wir gemeinsam (oder segregiert) wohnen und ob wir gemeinsam (oder segregiert) lernen, entscheidet nicht zuletzt auch darüber, ob wir in einer offenen und gerechten Gesellschaft leben. Ob soziale Mobilität und Chancengleichheit nicht nur behauptet, sondern auch gelebt werden, hängt auch daran, wie und für wen Stadtviertel und Schulen zugänglich und eingerichtet sind. Inklusion und Partizipation finden nicht im luftleeren Raum statt, sie werden erleichtert oder verhindert durch aktiv gestaltete Stadt- und Raumpolitik. Diese Fragen sind nicht erst durch die Geflüchteten aufgetaucht. Es gab sie schon vorher. Und sie wurden schon vorher fahrlässig ignoriert. Nach den Zahlen des Instituts der deutsche Wirtschaft wurden in Deutschland zwischen 2010 und 2014 gut 310 000 Wohnungen zu wenig gebaut.

Insofern ist es beunruhigend, dass die Stadt Berlin nicht nur an den langfristigen Planungsparametern des Stadtbaus, sondern schon an der Registrierung und Erstaufnahme der Geflüchteten scheitert: Über Monate hinweg wurden die katastrophalen Zustände am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Moabit nicht nur geduldet, sondern deren Folgen im verantwortungslosen Chaos einfach auf die freiwilligen Helferinnen und Helfer abgewälzt, die sich Tag für Tag und Nacht für Nacht um das Nötigste kümmerten. Als wollte die Stadt sich weniger als "arm, aber sexy", sondern vor allem als "offen, aber inkompetent" präsentieren. Statt das Merkelsche Diktum vom "Wir schaffen das" mit substanziellen Anwendungen zu füllen, setzte die Stadt Berlin ihm bislang lediglich ein beschämendes "Ihr schafft das schon" entgegen. Ob der überfällige Rücktritt des Chefs des Landesamtes daran etwas ändert, wird abzuwarten sein.

Gewiss, es ist eine enorme logistische Anstrengung, für alle Neuankömmlinge eine ordentliche Unterkunft zu finden. Dass zu Anfang auch etwas mehr als üblich improvisiert werden muss, ist durchaus verständlich. Aber die Hektik, mit der nun vornehmlich billige Modul-Bauten geplant werden, um eilig den fehlenden Wohnraum für Geflüchtete bereitzustellen, schafft perspektivisch erst die Probleme der Zukunft. So wie junkfood den Hunger langfristig mehr hervorruft als dass es ihn stillt, so geraten billige Massenunterkünfte langfristig eher teurer als nachhaltig durchdachte und gemischte Wohnquartiere. Die soziale Isolierung von Bewohnern von Großsiedlungen, die später beklagt und als urbane Ghettos stigmatisiert werden, sind so bereits programmiert.

Eine imaginationsarme Architektur, die Menschen nur als Objekte, als Empfängerinnen und Empfänger von Hilfeleistungen denkt, entwickelt auch nur Unterkünfte, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner vorgeblich nur ein Dach über dem Kopf brauchen. Andere, kreativere Formen des Nachdenkens über Stadtbau, das Wissen von Künstlerinnen und Künstlern, Architekten und Stadtplanern, aber auch von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Geflüchteten selbst stünde längst zur Verfügung. Es müsste nur angefragt und abgerufen werden. Gerade diese Woche ging der renommierte Turner-Preis an die junge britische Designer und Architekten-Gruppe "Assemble", die vor allem für "Granby Four Streets" ausgezeichnet wurden - ein wunderbares Sanierungsprojekt in einem Arbeiterviertel von Liverpool, das sie im Dialog mit den Bewohnern entwickelt hatten. "Es sollte eigentlich unser gesellschaftlicher Standard sein, dass Architekten gemeinsam mit Stadtbewohnern Wohnquartiere nach neuen Planungsideen entwickeln und realisieren", sagte der Berliner Architekt Wilfried Kühn jüngst in einem Interview mit dem Online-Magazin BauNetz , "so wie es 1957 und 1987 in den Berliner Internationalen Bau-Ausstellungen wenigstens im Ansatz erfolgreich geschah."

Nun hat allerdings die Stadt Berlin die ursprünglich für das Jahr 2020 geplante Internationale Bau-Ausstellung (IBA) unter dem Motto "Draußenstadt ist Drinnenstadt" vor zwei Jahren abgesagt. In einer Zeit, in der es mehr denn je experimentelles und zukunftsorientiertes Nachdenken über die Wohnungsfrage braucht, in der Labore für inklusive Formen des Zusammenlebens nötig sind, wäre eine Internationale Bau-Ausstellung eigentlich das Gebot der Stunde. Wenn die Stadt Berlin dazu nicht in der Lage ist, sollte sich der Bund überlegen, ein solches vorausschauendes Nachdenken über die neue historische Wohnungsfrage zu fördern. Es läge nicht allein im Interesse der Geflüchteten, sondern aller.

© SZ vom 12.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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