In einer bestimmten Situation handelt man auf eine Weise, derer man sich später schämt; man nimmt sich vor, nie wieder so zu handeln", schreibt die französische Philosophin Simone Weil 1941 im ersten Band ihrer "Cahiers". Das klingt naheliegend und vertraut. Doch dann fährt sie fort: "Kommt eine ähnliche Situation noch einmal, erkennt man die Ähnlichkeit nicht; denn sie ähnelt nicht der Erinnerung an die andere; sie ähnelt der anderen." Dass die Erinnerung sich von der Realität abkoppelt, erklärt womöglich, warum sich aus historischen Erfahrungen so schwer lernen lässt, warum sich politische Fehler, selbst jene, die erkannt wurden, dennoch wiederholen. Wenn die Erinnerung an ein Ereignis dem Ereignis selbst nicht (mehr) ähnelt, dann taugen alle guten Absichten nichts. Alle Vorsätze, nicht wieder denselben Fehler zu begehen, verpuffen.
Zurzeit ähnelt die Reaktion auf die mörderischen Anschläge von Paris (und Beirut und Tunis und . . .) jener auf die mörderischen Anschläge von 9/11 in New York: Im trauernden Entsetzen über all die unschuldigen Toten, aus Zorn über die Verwundbarkeit einer heterogenen Gesellschaft, die sich als freie und säkulare versteht und die in eben dieser Freiheit nicht gänzlich zu schützen ist, wird ein "Krieg gegen den Terror" erklärt. Zwar gibt es elementare Unterschiede zwischen den Anschlägen und den verbrecherischen Organisationen, die sie konzipiert und angeleitet haben, aber jedes Mal wurden sie als Angriffe auf die eigene Souveränität gedeutet. Was läge also näher, als mit einer machtvollen Behauptung der Souveränität zu antworten, indem der Ausnahmezustand erklärt, Notstandsgesetze erlassen und eine internationale Allianz für eine militärische Intervention in Syrien geschaffen wird? Das ist, heute wie damals, als Reflex ebenso verständlich wie voreilig.
Gewiss, der ethische und auch visuelle Druck auf die politischen Repräsentanten, der von dieser furchtbaren Gewalt ausgeht, ist immens. Gewiss, es ist ungleich leichter, aus bequemer Beobachter-Distanz die politischen Reflexe zu kritisieren, als sich, in verantwortlicher Position, tatsächlich gegen sie zu entscheiden. Niemand beneidet Politiker um ihre Aufgabe in diesen Tagen. Aber legitime Motive wie Solidarität und Beistand mögen eine notwendige Voraussetzung für einen Krieg sein, eine hinreichende sind sie nicht unbedingt. Es braucht auch eindeutige operative Standards, angemessene Mittel und vernünftige Perspektiven, wie der Krieg zu gewinnen und die Zukunft Syriens zu gestalten sei. Die UN-Resolution 2249 vom 20. November gibt darüber keine Auskunft.
Im Diskurs um einen Kriegseinsatz in Syrien fehlen die militärischen Argumente
Noch ist unklar, ob sich die deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz gegen den IS auf logistische Unterstützung beschränkt. Nur weil das Wort vom Krieg vermieden wird, ist der Krieg schließlich noch nicht vermieden. Aber die nüchterne Analyse des katastrophalen Scheiterns der letzten militärischen Anti-Terror-Missionen - das endlose Debakel in Afghanistan oder der Krieg am Ende des Krieges in Irak -, sollte schützen vor jener hypermoralisierten Idee vom Krieg als Instrument der Befriedung. Was den gegenwärtigen Diskurs über einen Krieg in Syrien so fragwürdig macht, ist keineswegs die Dominanz militärischen Denkens, sondern die geradezu spektakuläre Abwesenheit militärischer Argumente. Es scheint, als seien derzeit die Befürworter eines Krieges gerade dort überproportional vertreten, wo es an militärisch-strategischer Kompetenz mangelt.
Die Skepsis gegenüber dem Einsatz in Syrien speist sich keineswegs aus einer verharmlosenden Sicht auf den Terror, sondern im Gegenteil aus der Furcht, dass die Gewalt sich (wieder einmal) schlicht vervielfacht, wenn der IS nicht als das bekämpft wird, was er (auch) ist: ein finanzkräftiges Verbrechersyndikat mit regionaler Vernetzung und eine ideologisch-religiös höchst ausdifferenzierte Gegenkultur mit globaler Anziehungskraft. Vor einem Jahr zitierte die New York Times aus vertraulichen Einschätzungen von Generalmajor Michael K. Nagata, dem Kommandeur der amerikanischen Spezialeinheiten im Nahen Osten: "Wir haben die Idee (des IS) nicht vernichtet", so Nagata, "wir haben die Idee noch nicht einmal verstanden." Jede Anti-Terror-Kampagne, die nachhaltig die Gewalt des IS verhindern will, wird neben polizeilichen Maßnahmen vor allem dessen ideologisches System verstehen und seine Anziehungskraft untergraben müssen - sonst wird es immer wieder Sympathisanten geben, die dem Sog des IS verfallen und sich ihm als Menschenmaterial opfern.
Interessanterweise gibt es nun in Indonesien, dem Staat mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung, eine beeindruckende Öffentlichkeitsoffensive, die vornehmlich die religiös-ideologischen Erzählungen des IS zu konterkarieren sucht: "Natlatul Ulama", eine muslimische Organisation mit mehr als 50 Millionen Mitgliedern, kritisiert in einem eigens produzierten 90-minütigen Film die menschenverachtende Ideologie der Dschihadisten scharf und fordert stattdessen eine Kampagne für einen liberalen, pluralistischen Islam. Eine glaubwürdige muslimische Stimme mit einem mächtigen Wirkungskreis, die eine Gegenerzählung der Toleranz propagiert, das klingt langfristig nach einer sinnvollen Form des Anti-Terror-Kampfes. Wird das schnell jede Gewalt verhindern? Nein. Aber das wird auch ein Militäreinsatz nicht.
Neben den Verhandlungen um eine politische Lösung des syrischen Bürgerkriegs in Wien, neben den Sanktionen, die die Geldquellen des IS austrocknen sollen, braucht es konzertierte Investitionen in Bildung und Ausbildung. Ein europäisches Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit und für besondere schulische und universitäre Förderung wäre dringend geboten. Wenn junge muslimische Europäer ihr Leben lebenswert finden, wenn sie Lust auf eine Zukunft in Europa haben, weil sie sich zugehörig fühlen und die offene, liberale Demokratie ihnen attraktiv erscheint, hat die apokalyptische Vision des IS keine Chance. Alles andere wäre bloß eine Wiederholung.