Zu den Ritualen amerikanischer Elite-Universitäten gehört die Commencement Speech: die Rede einer namhaften Wissenschaftlerin oder eines Politikers, einer prominenten Persönlichkeit aus dem Film- und Showbusiness, in jedem Fall eine wegweisende und oft humorige Ansprache für die Absolventen eines Jahrgangs, die die jungen Leute zu ihrem Aufbruch in die Welt ermutigt. Die Absolventen der Rutgers University in New Jersey erlebten dieses Jahr eine erstaunliche Rede, die sich nicht nur an die versammelten Studentinnen und Studenten richtete, sondern an die gesamte amerikanische Öffentlichkeit. "Wenn Sie die heutigen politischen Debatten verfolgen, so könnten Sie sich fragen, woher dieser Anti-Intellektualismus stammt", erklärte der Commencement-Redner, legte eine kurze Pause ein, und wurde dann scharf: "Also, Jahrgang 2016, lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: In der Politik wie im Leben ist Unwissenheit keine Tugend. Es ist nicht cool, keine Ahnung zu haben, wovon man spricht." Der Redner hieß Barack Obama.
Der amerikanische Präsident kritisierte den aggressiven Anti-Intellektualismus, mit dem der republikanische Präsidentschafts-Kandidat Donald Trump in seinem Wahlkampf in immer tiefere Niederungen der stolzen Dumpfheit absinkt. "Es bedeutet nicht, die Dinge beim Namen zu nennen oder sich gegen politische Korrektheit zu stemmen", so Obama, "es bedeutet einfach nur: keine Ahnung zu haben, wovon man redet." Die Kritik des Präsidenten am Zeitgeist, der den Kult des uninformierten Gefühls als angeblich volksnah feiert und faktengesättigte Reflexion für schädlich hält, trifft auch auf die politischen Debatten in Europa zu. Auch hier grassiert das populistische Lob der Torheit. Auch in England oder Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland ist jener anti-aufklärerische Gestus en vogue, der absichtsvolle Ignoranz als Instrument der politischen Selbstvermarktung nutzt. So gerieren sich Politikerinnen und Politiker der neuen Rechten oder der Europa-Skeptiker als anti-elitär, als volksnah und hyper-authentisch - dabei verstehen sie unter Volksnähe lediglich das Leugnen von Tatsachen und das Verschlichten der Welt.
Die Wirklichkeit wird zu geistiger Babynahrung verrührt, damit sie sich in möglichst unterkomplexen, aber wohlklingenden Erzählungen darbieten lässt. Wenn ökologische, ökonomische oder soziale Realitäten der Simplifizierung entgegenstehen, werden sie einfach geleugnet und durch leichter verdauliche Lügen ersetzt. Wie jüngst der Zeit-Online-Autor Lenz Jacobsen es formulierte: "Das Zeitalter der Fakten ist vorbei." Man könnte auch sagen: Es ist durch eine Art Hippisierung des politischen Diskurses abgelöst. Was an der Wirklichkeit nicht in kleine, hübsche Gläschen aus analytischem Brei verpackt werden kann, wird negiert. Nachdenklichkeit und Sachkunde werden als angebliche Signaturen einer faulen Bildungselite denunziert (als wäre Bildung ohne brutalen Fleiß zu haben). Dabei zeugt es ja gerade von der erstaunlichen Menschenverachtung der Populisten, Dummheit für prinzipiell volksnäher zu halten als Intelligenz und Bildung . Und es zeugt von einer eigentümlichen Fehleinschätzung der eigenen Gattung, Emotionen für grundsätzlich authentischer zu erklären als Vernunft.
Vielleicht ist die Entzauberung der Leave-Aktivisten Boris Johnson und Nigel Farage in Großbritannien das einzige positive Resultat dieses Brexit-Debakels. Wie es gelingen konnte, dass sich ausgerechnet jemand wie Boris Johnson als Sprecher der einfachen Leute erfindet, ist ein zynisches Lehrstück rhetorischer Manipulation. Mit Johnsons Abgang von der politischen Bühne ist die Unaufrichtigkeit eines sprachmächtigen Egomanen sichtbar geworden, der kaum weniger authentischer sein könnte: Eton-Schüler, Oxford-Absolvent, Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph, aber aus nichts als obszöner Freude an der eigenen Macht gegen eine Elite hetzen, der er selbst angehört. Bei Boris Johnson war offensichtlich nicht einmal der Hass auf die EU in seinen Reden aufrichtig, sondern nichts als Text einer Rolle, die zu spielen ihm gerade infantile Lust bereitete. Nach dem Referendum, als aus dem Text Wirklichkeit wurde, als das Volk mit seinem Votum ihm tatsächlich nahe gerückt war, da wollte Johnson diese Nähe nicht. Der Manipulator duldet andere Menschen nur als Objekte seiner Rhetorik. Als politische Subjekte mit eigenen Willem sind sie ihm ungeheuer.
Bei Nigel Farage waren die Mittel der anti-elitären Maskierung als Politiker der Abgehängten und Überflüssigen der Gesellschaft noch erbärmlicher als bei Boris Johnson: Als ehemaliger Privatschüler und Rohstoffhändler in der Londoner City beschränkte sich der verlogene Gestus des "Ich bin einer von euch" primär aufs Bier-Trinken. Allerdings ist notorisches Saufen nicht unbedingt ein Beleg für Volksnähe, sondern womöglich nur schlicht für Alkoholismus.
Es ist nicht cool, ignorant zu sein. Es ist einfach nur ignorant. Es ist auch nicht hip, rassistisch und verlogen zu sein. Es ist einfach nur rassistisch und verlogen. Es ist nicht mutig, gegen Migrantinnen und Migranten oder gegen Intellektuelle oder gegen Europa zu hetzen. Es ist nur Hetze. Die komplexe Wirklichkeit verschwindet nicht, nur weil Populisten sie leugnen. Die Globalisierung löst sich nicht auf, nur weil jemanden die Kontrolle über die eigenen Grenzen verspricht.
Die unangenehmen Wahrheiten werden nicht weniger wahr, nur weil Populisten sie nicht aussprechen. Moralische Argumente verlieren nicht ihre Gültigkeit, nur weil Populisten sie als "politisch korrekt" diffamieren. Vor allem aber: Populisten werden nicht ehrlicher, nur weil sie Volksnähe simulieren. Populisten, vielleicht ist das endlich mit dem verantwortungslosen Gebaren der britischen Brexit-Aktivisten deutlich geworden, nehmen nicht die "Sorgen der Menschen" ernst. Sie nehmen nicht einmal Menschen ernst. Am allerwenigsten die "einfachen Leute". Sie dienen ihnen nur als Spielfiguren in einem Spektakel, das sie aufführen, solange es sie allein amüsiert.