Kolumne:Spektakel

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EU-Kommissionspräsident Juncker nennt Ungarns Ministerpräsidenten Orbán einen "Diktator" - was es bedeutet, wenn die Inszenierung des Politischen zusammenbricht.

Von Carolin Emcke

Als Spektakel (lateini sch s pectaculum für Schauspiel, Augenweide) wurden einst aufsehenerregende Vorfälle oder Theaterstücke bezeichnet, deren Anblick das breite Publikum ergötzen sollte. Das "Grimmsche Wörterbuch" zählt sowohl Schaustellungen und "circensisches Spiel" als auch lärmende Szenen "wie von der Einbringung eines Gefangenen oder einer Hinrichtung" zu den verschiedenen historischen Bedeutungen des Begriffs. Aus dieser letzten Verwendung entwickelt sich später die Vorstellung von dem Spektakel als ärgerlichem Handel oder Auftritt.

Ob sich die Gipfeltreffen europäischer Repräsentanten noch in dem ursprünglichen Sinne als Spektakel kategorisieren lassen, ist fraglich. Vermutlich waren sie aber einmal so gedacht: als aufsehenerregendes Theater des Politischen, als Schaustellen lebender Tableaus für den demos - zuversichtlich-händeschüttelnde Begrüßung des mächtigen Personals, zuversichtlich-wortreiche Erklärung mit zwei Stehpulten, immer vor nationalen oder europäischen Flaggen, und (als ob sich die Regisseure der Symbolpolitik der eigenen Bedeutung doch nicht ganz sicher seien) die internationale Presse als Relevanz-Beweis immer mit im Bild. Längst sind die europäischen Inszenierungen bereinigt um auch die letzten Spuren des Spontanen oder Lokalen. Alles, was besonders, was einzigartig sein könnte, fehlt. Je unauthentischer, desto nützlicher für die warenförmige Selbsthistorisierung.

Wenn ein EU-Mitglied zum Infektionsherd für Demokratien wird, das sollte gleichgültig sein?

"Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobpreisender Monolog", schrieb der französische Autor und Filmemacher Guy Debord in seinem berühmten "Die Gesellschaft des Spektakels". Wer den dauernden Ausnahmezustand der europäischen Schuldenkrise in den vergangenen Monaten und Jahren medial verfolgt hat, wem sich die Bilder der Begegnungen europäischer Finanzminister und Regierungschefs ununterscheidbar wie in der Wiederholungsschleife einer Dauerwerbesendung präsentiert haben, der musste fürchten, es gäbe in diesem Spektakel nurmehr "Parodien des Dialogs" (Debord).

Nun ist vor wenigen Wochen im Netz ein Video-Schnipsel aufgetaucht, das aus diesem Muster fällt. Entstanden ist es auf dem "Eastern Partnership Summit" in Riga, Lettland. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wartet vor einer nichtssagenden Wand, rechts und links hängen die europäische und die lettische Fahne schlaff herab, rechts neben ihm steht die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma und links der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk. Nichts Besonderes. Eine kurze Pause, die maximal Gelegenheit für Smalltalk bietet, bevor das Protokoll die nächste Begrüßung vorsieht. Tusk wendet sich nach links, anscheinend dem nächsten Staatsgast zu, der im Bildausschnitt aber noch nicht zu sehen ist, als sich Juncker kurzerhand zu der lettischen Ministerpräsidentin nach rechts wendet und ihr " The dictator is coming" zuraunt. Im selben Moment tritt von links auf: Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident. Als wäre das nicht schon erstaunlich genug, wiederholt der Kommissionspräsident seine Bemerkung, als Orbán direkt vor ihm steht, Juncker hebt die Hand zum Gruß, sagt: " Dictator . . .", als sei das Orbáns Vorname, schlägt in dessen ausgestreckte Hand ein und klatscht ihm jovial ins Gesicht.

Das ist nun wirklich spektakulär. Allerdings auch spektakulär ambivalent. Im ersten Augenblick ist man irgendwie beruhigt: Endlich wird mal nicht beschönigt oder geleugnet, wie Ungarn sich unter der Regierung Orbán in den letzten Jahren gewandelt hat. Zwar bescheinigte die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Ungarn in einem jüngst veröffentlichten Bericht noch, eine freiheitliche Demokratie zu sein, zwar mag Orbán ein demokratisch gewählter Ministerpräsident sein, aber er ist eben doch einer, der seine nationalistische Version des demokratischen Staates ausdrücklich als "illiberal" bezeichnet. Ob es die fremdenfeindlichen Plakat-Aktionen gegen Flüchtlinge, die Ankündigung des Baus einer Mauer an der Grenze, die Versuche, unabhängige Medien durch das Steuerrecht zu gängeln, oder die partiellen Einschränkungen der Befugnisse des Verfassungsgerichts sind, immer wieder gerät Orbán in Konflikt mit europäischen Standards und Gesetzen. Immerhin flammt in Junckers provokanter Begrüßung so etwas wie ein Restbestand an politischer Ehrlichkeit und Einsicht in die Zustände in Ungarn auf.

Aber wenn das so ist, wenn der EU-Kommissionspräsident hier tatsächlich wahrhaftig gesprochen haben sollte, wenn " Here comes the dictator" tatsächlich ein mindestens halb ernstes Werturteil über Viktor Orbán enthalten haben sollte, wieso begrüßt er ihn dann lachend mit Handschlag? Was sollte daran witzig sein? Was für eine gigantische Illusionsmaschine ist dieses Europa dann, wenn es die Stabilität seiner Währung vehementer verteidigt als die Stabilität seiner demokratischen Verfasstheit? Da wird Woche für Woche auf Krisengipfeln darüber diskutiert, wie die griechische Schuldenkrise die europäische Ordnung bedroht, da wird von Prinzipien und Regeln gesprochen, die es einzuhalten gelte - aber wenn andere Mitgliedsstaaten mit illiberalen, chauvinistischen Ideologien zu "Infektionsherden" für die Demokratie werden, wie es der ungarische Schriftsteller Iván Sándor gerade genannt hat, das sollte gleichgültig sein?

Vielleicht sollte daran erinnert werden, dass es auch eine andere europäische Währung gibt, eine, die mit demokratischen Werten rechnet und mit der nicht leichtfertig spekuliert werden sollte. Sie besteht aus Respekt vor dem Rechtsstaat und der Gewaltenteilung, dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor staatlicher Willkür und mafiöser Korruption, der unantastbaren Würde des Individuums und einer Erinnerungskultur, die sich der Verbrechen der eigenen Geschichte gewärtig ist und daraus Visionen für ein inklusiveres, gerechteres, vielfältiges Europa zu schöpfen sucht. Alles unterhalb dessen wäre nur ein trauriges Spektakel.

© SZ vom 27.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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