Gemildert wird das Unglück nicht, indem du davon sprichst", heißt es in einem Vers des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis, "doch es gibt Schmerzen, die im Herzen nicht ruhig verweilen." So fühlt es sich an in diesen Tagen und Wochen. Vielleicht auch schon während des ganzen Jahres. Die Schmerzen über die diversen politischen Erschütterungen schnüren einem die Kehle zu und wollen doch in Worte gefasst werden. Ob es das elende Sterben in Syrien oder im Mittelmeer, der brutale Konflikt in Jemen oder die Zustände in der Türkei, die trostlosen Wahlen in den Vereinigten Staaten oder das folgenreiche Referendum in Großbritannien sind - und jetzt auch noch der Anschlag im Herzen von Berlin.
Hass und Gewalt sind schon lange nicht mehr nur anderswo. Sie betreffen schon lange nicht mehr nur andere. Sie rücken einem buchstäblich auf den Leib. Weil sich nicht mehr wegschauen oder die eigene Mitschuld verleugnen lässt, weil es Freunde und ihre Familien sind, die da verhaftet oder verleumdet, vertrieben oder getötet werden, weil mitten in der eigenen Stadt eingetroffen ist, was vorher schon in Brüssel oder Tunis, in Beirut oder Paris zu betrauern war. Kaum jemand kann diese düsteren Erfahrungen der jüngsten Zeit einfach so annehmen oder aushalten. Es gibt Schmerzen, die im Herzen nicht ruhig verweilen.
Wie lässt sich der Schrecken eingestehen, ohne sich ihm auszuliefern?
Aber wie soll davon zu sprechen sein? Wie lassen sich Angst und Trauer angemessen artikulieren, ohne sie so zu steigern, wie es sich die radikalen Islamisten und ihre rechtspopulistischen Echos wünschen? Wie sich gelassen zeigen, ohne gleichgültig gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen zu klingen? Wie lässt sich der Schrecken, den der Terror implantiert, eingestehen, ohne sich ihm auszuliefern? Wie sich angegriffen und gemeint fühlen und doch selbstbewusst dem Rechtsstaat und seinen Instanzen vertrauen?
Das sind nicht bloß poetische oder stilistische, sondern politische und ethische Fragen. Die Gefahr, die von Menschenverachtung ausgeht, besteht nicht allein in der Gewalt, in die sie mündet, sondern auch und nicht zuletzt im Abschleifen der eigenen moralischen Erwartungen. Es mag vielleicht realistisch sein, mit Hass und Terror zu rechnen, aber eine Gesellschaft gäbe ihre Zivilität auf, wenn sie diese für "normal" erklärte. Insofern gehört zu der Reaktion auf Hass und Gewalt eben auch und immer wieder das Entsetzen darüber, dass sie geschehen. Und dieses Entsetzen kann nicht qualitativ abnehmen, wenn Hass und Gewalt quantitativ zunehmen.
Es ist eher wie im Winter, wo mit der eisigen Kälte zu rechnen ist und man mit angezogenen Schultern durch die Straßen läuft - aber man friert deshalb doch nicht weniger. Individuell oder kollektiv innezuhalten, um zu trauern, die eigene Verwundbarkeit auch anzuerkennen, ist insofern kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Aufrechterhalten normativer Standards. Auch und gerade wenn sie unterwandert werden sollen. Diejenigen, die Zynismus als Selbstschutz vor sich hertragen, untergraben die freie, offene Gesellschaft ebenso wie diejenigen, die im Autoritären sich verpanzern wollen.
"Um viel geht's nicht/ sich Steine regnen lassen ins Gesicht/ ohne dass die Seele sich verletzt", schrieb einmal der tschechische Dichter Jan Skácel in dem Band "Wundklee" und benennt darin diesen Zwiespalt: Es wäre falsch, so zu tun, als verstörten sie nicht mehr, dieser Terror und seine schamlose Instrumentalisierung für politische Zwecke. Diese gespenstische Logik, nach der die einen profitieren von der Angst, die die anderen herbeimorden. Aber es wäre auch falsch, sich durch sie verformen zu lassen und ohnmächtig oder gar hoffnungslos zu werden. Sich bange machen oder ebenso fanatisch werden zu lassen, das würde die Seele verletzen.
Es lässt sich nicht leben im permanenten Ausnahmezustand. Es lässt sich nicht leben im Modus permanenten Misstrauens. Insofern gibt es auch ein Festhalten an der Normalität des gewohnten Alltags, das sich nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Widerständigkeit speist. Weiterhin zusammenzukommen, sich nicht vereinzeln zu lassen, einander zugewandt zu bleiben, sich die Freude an einer offenen, vielfältigen Gesellschaft von niemandem nehmen zu lassen, darin liegt auch eine Form der heiteren Dissidenz. Das ist es ja, was die pseudoreligiösen und die rechtsradikalen Fanatiker wollen: uns aufteilen, uns nur noch über Unterschiede definieren. Sie wollen verhindern, dass wir jenseits des Glaubens oder der Herkunft unsere Ähnlichkeiten sehen und denken können.
Aber die Art und Weise, wie zahllose Menschen in diesen Tagen und auch in diesem Jahr füreinander eingestanden sind, wie sie sich nicht haben trennen lassen, wie sie sich durch Lüge und Hetze nicht haben einschüchtern oder manipulieren lassen, das war beeindruckend. Sie mögen leiser sein als die anderen, aber dafür sind sie von einer inneren Weite, die nur die kennzeichnet, die hoffen wollen auf ein freies, offenes, gerechtes Miteinander. Diese Hoffnung ist manchen einfach gegeben. Sie tragen sie in sich als metaphysische Gewissheit. Als ein Geschenk, das sich nicht verdienen lässt. Aber es gibt auch eine Hoffnung, für die sich gesellschaftlich etwas tun lässt. Jede und jeder Einzelne kann daran mitwirken, dass sie sich vermehrt.
Es braucht nicht viel dafür. Sich angesprochen zu fühlen, wenn Unrecht geschieht, nicht nur einem selbst, sondern auch anderen; sich nicht zurückzuziehen und lähmen zu lassen, sondern hinauszugehen und sprechend und handelnd einzugreifen. Sich nicht einreden zu lassen, dass es nutzlos sei oder nicht genug. Was sollte das auch heißen: genug? Die Hoffnung vertieft und erweitert sich dort, wo Menschen aufeinander zugehen, wo gemeinsam ein Horizont geschaffen wird, auf den alle sich ausrichten können.
Für mich persönlich war es das, was dieses Jahr, allem Hass und aller Gewalt zum trotz, dominiert hat: die unbeirrbare Kraft derer, die für diesen Glauben an ein offenes, freies, gerechtes Miteinander aufgestanden und eingestanden sind.