Kolumne:Macht

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Nicht die Quantität der Flüchtlinge ist historisch, sondern die Qualität der Zuwendung.

Von Carolin Emcke

Chinesische Weisheit unterscheidet fünf Zustände des Begreifens", schreibt die kanadische Dichterin Anne Carson in ihrem klugen Buch über die "Anthropologie des Wassers": "Etwas ist anders. Etwas ist genau gleich. Etwas ist fast genau gleich. Etwas ist fast genau nur das, was es ist, und nichts anderes. Etwas ist." Ein Ding lässt sich betrachten, indem man es ins Verhältnis setzt zu einem anderen, indem seine Eigenschaften verglichen werden mit den Eigenschaften von einem anderen Ding.

Dann tauchen Unterschiede auf oder Übereinstimmungen. Oder es tauchen Ähnlichkeiten auf. Es ist anders. Es ist genau gleich. Es ist fast genau gleich. Ein anderer Zustand des Begreifens ist der, der ohne Vergleich auskommt. Der keine Gemeinsamkeiten oder Differenzen zu erkennen sucht. Etwas ist.

Es ist dieser letzte Zustand des Begreifens, der, der ohne Vergleiche auskommt, der sich in der überwältigenden Bewegung der Hilfsbereitschaft für Geflüchtete in Deutschland zeigt. All die Menschen in diesen Tagen, auf dem Land oder in der Stadt, die geben und teilen, was sie haben: Kinderwagen oder Turnschuhe, ein Bett in der eigenen Wohnung oder einen Platz am Tisch zum Abendessen, all diese Menschen suchen keine Gemeinsamkeiten oder Differenzen. Sie begutachten nicht einzelne Eigenschaften derer, die da nach Europa, in die eigene Gegend oder Straße kommen, sie teilen die Menschen nicht ein oder auf in jene, die genau gleich oder fast genau gleich oder anders sind als sie selbst. Der bewegenden Hilfsbereitschaft, die in diesen Wochen zu erleben ist, liegt ein anderer Blick, eine andere Sorte des Begreifens zugrunde. Sie nehmen die Geflüchteten als das, was sie sind: Geflüchtete.

Dieses tiefe Begreifen ist bedingungslos. Es sortiert nicht die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, es entzieht sich jener skalierenden Musterung, nach der "legitime" von "illegitimen", "nützliche" von "schädlichen" Ankömmlingen geschieden und bei Bedarf dämonisiert und entwertet werden. Es versteht vielmehr Verletzbarkeit als condition humaine: ob es nun politische Verfolgung oder religiöse Vertreibung, sexuelle Misshandlung oder ökonomische Verelendung war, die Menschen zur Flucht gedrängt hat. Nicht die Quantität derer, die hierher fliehen, ist historisch zu nennen, sondern die Qualität der Zuwendung derer, die sie anerkennen.

Ziviles Engagement füllt das Vakuum, das die Politik hinterlassen hat

Diese Hilfsbereitschaft widersetzt sich allen zynischen Versuchen, sie als bloß emotional, als bloß gut zu infantilisieren - als sei aufgeklärter Humanismus eine Kinderkrankheit und nicht eine reflektierte, vernünftige Überzeugung. Diese Bewegung aus zivilem Engagement für Geflüchtete zeigt sich vielmehr als so rational wie dissident. Rational, weil sie mit ihrer solidarischen Praxis reagiert auf die gleichgültige Haltungslosigkeit der politischen Repräsentanten, und weil sie jenes politische Vakuum füllt, das diese in Europa kreiert haben.

Rational auch, weil sie sich dabei an dem orientiert, was in der europäischen Tradition der Menschenrechte verbrieft und am Arbeitsmarkt geboten ist. Dissident, weil sie sich der dominanten Logik der Abwehr verweigert, und jene Allianz aus rechten Hetzern, bürgerlichen Gutheißern und taktischen Opportunisten unterläuft. Dissident auch, weil sie sich jenem verstümmelten Begriff des Politischen widersetzt, der Macht allein in staatlichen Institutionen verortet. Diese beeindruckende Bewegung aus zivilem Engagement ist keineswegs nur privat. Sondern sie ist in ihrer Selbstermächtigung auch politischer als manche Regierung, die ihre angebliche Ohnmacht in der Flüchtlingskrise nur vortäuscht.

"Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln und etwas zu tun", schrieb die Philosophin Hannah Arendt 1970 in "Macht und Gewalt", "sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln." Gerade in dem Moment, in dem Europa zu einem leeren Konzept zu werden drohte, ohne normative Bindungskräfte nach innen, schreiben diejenigen, die nach Europa fliehen und diejenigen, die sie annehmen, machtvoll eine andere Geschichte. Sie reagieren auf die Legitimationskrise Europas und erfinden es neu. Sie erinnern ihre eigenen Regierungen, was diese vergessen haben: woraus das europäische Projekt einmal bestand: aus der aufgeklärten Kritik an Dogma und Fanatismus und dem Versprechen von Inklusion und subjektiven Rechten.

Gewiss wird es auch unter den Geflüchteten Menschen geben, die hadern, die scheitern oder uns als säkulare, offene Gesellschaft herausfordern. Aber das gibt es auch unter Menschen, die nicht geflüchtet sind. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dieser Prozess leicht und konfliktfrei wird. Nicht alle, aber viele der Geflüchteten tragen die traumatische Erfahrung von Gewalt und Vertreibung aus ihrer Heimat mit sich. Nicht alle, aber manche der Geflüchteten werden nicht einfach arbeiten und funktionieren können. Nicht alle, aber manche der Geflüchteten sind Überlebende, die lange brauchen werden, um ganz zu verstehen, was das bedeutet: überleben. Aber sie bringen eben auch den Mut des Aufbruchs mit und den Glauben an ein gerechtes, freies Europa, das nun erst wieder lernt, wie und wer es sein kann.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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