Man verliert eine Sache, wenn sie schadhaft geworden ist", erläuterte Sigmund Freud in seinen Vorlesungen über die Fehlleistungen aus dem Jahr 1916. Man verliere sie, "wenn sie aufgehört hat, einem lieb zu sein, wenn sie von einer Person herrührt, zu der sich die Beziehungen verschlechtert haben oder wenn sie unter Umständen erworben wurde, deren man nicht mehr gedenken will". Freud untersucht unter dem Stichwort "Fehlleistungen" unterschiedliche Beispiele des Verlierens oder Verlegens, denen allen gemein ist, "dass man etwas verlieren wollte", und die sich allein darin unterscheiden, aus welchem Grund oder zu welchem Zweck etwas vorübergehend oder endgültig abhandenkommt. An diese klassische Definition gilt es immer dann zu denken, wenn mal wieder im Zusammenhang mit der Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) irgendetwas verschwunden ist, das von Belang sein könnte, weil es von irgendeinem Behördenchef oder -mitarbeiter verlegt, verloren oder vernichtet wurde.
Die Liste der kuriosen Fehlleistungen ist so lang, dass sie für eine eigene Vorlesung Freuds reichen würde: Als ein Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 (drei Tage, nachdem sich Beate Zschäpe der Polizei gestellt hatte) mehrere Akten über V-Männer im NSU-Umfeld (mit den grotesken Decknamen "Tinte", "Tusche", "Tonfarbe", "Treppe", "Tacho", "Tarif") vernichten ließ, urteilte die Staatsanwaltschaft Köln, dabei habe es sich um keine Straftat gehandelt. Eine bewusste Vertuschungsabsicht sei nicht erkennbar. Das Oberverwaltungsgericht Münster erklärte die Aktion zu einer "einmaligen Fehlleistung", die "nichts mit dem Inhalt der Akten" zu tun gehabt habe. Das ist durchaus bemerkenswert, denn wenn die Aktion nichts mit dem Inhalt der Akten zu tun gehabt hätte, wäre es auch keine Fehlleistung gewesen. Stattdessen birgt eine Fehlleistung eher Hinweise darauf, dass jemand in den Akten aufgehört hat, der Behörde lieb zu sein oder dass der Referatsleiter der Umstände, unter denen die Akte angelegt wurde, nicht mehr gedenken will. Es ist nachträglich nur nicht mehr auszumachen, ob das Material deswegen belastend war, weil es zu viel Wissen über den NSU und seine Verbrechen enthielt - oder womöglich zu wenig.
Tresore scheinen als Deponien zur Entsorgung schlechten Gewissens zu dienen
Auch die Menge an Unterlagen ist eindrucksvoll, die als verschollen oder vernichtet galten, die sich dann aber nach einigen Jahren urplötzlich als lediglich "verlegt" herausstellten. So lag eine Akte der Polizeidirektion Nürnberg jahrelang im Polizeipräsidium Mittelfranken anscheinend unbemerkt herum, obgleich in ihr Verbindungen von Uwe Mundlos zur Nürnberger Neonazi-Szene rund um den Treffpunkt "Tirolerhöhe" schon in den 1990er Jahren dokumentiert waren - diese aber offensichtlich niemand melden wollte. Erst eine offizielle Anfrage des Untersuchungsausschusses im Landtag von 2012 beförderte die Akte, die wohl so verlegen machte, dass sie verlegt wurde, wieder ans Licht. Auch in Sachsen entwickelten potenziell unangenehme Akten ein erstaunliches Eigenleben. Beim Zimmerwechsel eines Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz (im Zuge einer Umstrukturierung des Amtes) war im Tresor des Kollegen eine Akte mit Telefonprotokollen aus der rechtsradikalen Szene aufgetaucht, die eigentlich schon als vernichtet galt. Der Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz musste zurücktreten.
Tresore scheinen bei Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz ohnehin gern als Deponien zur Entsorgung schlechten Gewissens instrumentalisiert zu werden: Wie in dieser Woche in der SZ zu lesen war, ist auch das Handy des verstorbenen rechtsextremen Geheimdienst-Informanten "Corelli" überraschend wieder aufgetaucht. Anscheinend lag es jahrelang unter Verschluss im Safe des Quellenführers und war dort wohl "vergessen" worden. Das Handy enthält vermutlich über 200 Kontaktdaten und mehrere Tausend Fotos, die nun eilig vom Bundesamt für Verfassungsschutz für bedeutungslos erklärt wurden, weil sie angeblich zeitlich in keinerlei Bezug zum NSU stehen könnten. Wenn aber die Informationen auf dem Handy so irrelevant waren, warum wurde es dann überhaupt im Safe gebunkert?
Das absolute Glanzlicht in der unendlichen Geschichte der Fehlleistungen mit verlegten, vergessenen oder vernichteten Unterlagen im Zusammenhang mit der Aufklärung der Verbrechen des NSU lieferte diese Woche nun die Staatsanwaltschaft Chemnitz. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte eine Akte über den Neonazi und V-Mann Ralf Marschner (Deckname "Primus") angefordert, in dessen Firmen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe während ihrer Zeit im Untergrund gearbeitet haben sollen. Das Material in der Akte ist deswegen so brisant, weil die Firma von Marschner und dadurch womöglich auch Mundlos im Jahr 2001 auf Baustellen im Raum Nürnberg und München tätig gewesen sein sollen - und dadurch womöglich auch Verbindungen zu den Morden an Abdurrahim Özüdoğru und Habil Kiliç gezogen werden könnten. Die Behörde in Chemnitz erklärte nun, die Akte könne leider nicht mehr herausgegeben werden, denn sie sei, ach je, durch das Hochwasser in Sachsen im Jahr 2010 zerstört worden.
Das ist brillant. Es wäre literarisch eigentlich nur noch zu überbieten durch die Erzählung, die Akte sei, obgleich sich selbstverständlich keinerlei relevante Hinweise in ihr befunden hätten, vorsorglich in einem Tresor verschlossen gewesen, und die historische Flut habe bedauerlicherweise den ganzen Safe hinweggerissen. Es ist fast wie in einem jener Kinderträume, die für Sigmund Freud nicht nur die direkte, unverhüllte Erfüllung eines vom Tage überlassenen Wunsches darstellen, sondern auch den Schlaf weniger stören denn hüten. Das Hochwasser räumt einfach das weg, was stört. Diese ganzen Episoden wären witzig, wenn es hier nicht um die Aufklärung von Morden ginge und wenn nicht mit jeder dieser Fehlleistungen das Vertrauen in die Instanzen des Rechtsstaats, die schützen sollen vor solchem Terror, unterspült würde.