Kolumne:Der Bote

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Dank Edward Snowden hat die Welt ihren Blick auf das Internet verändert. Aber sein Heimatland hat ihn verbannt. Es ist Zeit, diesen Fehler zu korrigieren.

Von Carolin Emcke

In dem Essayband "Idyllen in der Halbnatur" analysiert der Schriftsteller Wilhelm Genazino das eigenwillige Phänomen des verlorenen Schuhs. Wer kennt das nicht? Ein einzelner Schuh, meist schon etwas schäbig oder durchnässt, liegt am Straßenrand oder an einer Bushaltestelle - und lässt diejenigen, die niemals Schuhe verlieren, ungläubig staunen. Das Bild fügt sich nicht ein in die gewohnte Ordnung der Dinge. Der Anblick gibt Rätsel auf: Wie kann ein Schuh abhandenkommen? Warum würde jemand in der Öffentlichkeit absichtlich einen Schuh ausziehen und zurücklassen? Aus Lebensfreude? Aus Überdruss? War es eine ausgelassene Geburtstagsparty, auf der eine Frau aus einer Laune heraus einen ihrer High Heels aus dem Fenster warf? Ein Betrunkener, der im Delirium herumirrte und den Verlust seines ranzigen Stiefels nicht einmal mehr bemerkte? "Man muss solche Vorgänge für möglich und wirklich halten", schreibt Wilhelm Genazino, "was man von ihnen immer wieder nur sieht, ist das letzte Glied der Handlungskette."

Snowden ist ein öffentlicher Flüchtling, der allseits gefragt aber überall unerwünscht ist

Was Genazino ein "veritables Minimenetekel" nennt, das ungläubige Staunen, das einen befällt, wenn nur das letzte Glied einer Handlungskette sichtbar wird, ähnelt der unbehaglichen Ratlosigkeit, die einen überkommt beim Anblick von Edward Snowden, wenn er wieder einmal zugeschaltet wird in eine Sendung oder akademische Veranstaltung. Das Bild fügt sich nicht ein in die gewohnte Ordnung der Dinge. Da sitzt dieser junge, etwas blasse Mann, als sei er ein ganz normaler Studiogast oder Redner, nur etwas höflicher und aufmerksamer als die meisten, ein öffentlicher Flüchtling, der allseits gefragt und doch überall unerwünscht ist. Eine Art Unberührbarer, der doch Menschen weltweit rührt.

Allein im Mai war Edward Snowden eingeladen, per Skype an der Universität von Princeton, in einer "distinguished guest"-Serie in Stanford, auf Konferenzen in Norwegen und in Australien zu sprechen. Es irritiert, weil es nur das letzte Glied einer Handlungskette ist - und doch muss man die Vorgänge, die dazu geführt haben, für möglich und wirklich halten.

Vergangene Woche hat der Kongress der Vereinigten Staaten den "USA Freedom Act" verabschiedet, ein Gesetz, das den amerikanischen Geheimdienst NSA in seinen Befugnissen, massenhaft Daten von Telefonverbindungen und E-Mails überwachen und sammeln zu können, begrenzt. Erstmals seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts haben die Repräsentanten von Capitol Hill damit die Macht und Möglichkeiten der Geheimdienste nicht erweitert, sondern eingeschränkt. Der Kongress folgte einem Entscheid eines Bundesgerichts, das bereits vor einigen Wochen das umfassend unpräzise Abschöpfen von Telefondaten von Millionen Amerikanern für illegal erklärt hatte. In einer Verlautbarung äußerte sich Präsident Obama hocherfreut zu dem "USA Freedom Act": In den vergangenen achtzehn Monaten habe er Reformen eingefordert, die "die Privatsphäre und Bürgerrechte der amerikanischen Bevölkerung besser schützten". Dass es ohne Edward Snowden allerdings gar kein Bewusstsein dafür gegeben hätte, dass die Privatsphäre und die Bürgerrechte überhaupt besser geschützt sein müssen, und zwar vor dem eigenen Geheimdienst - das erwähnte Obama nicht.

Edward Snowden ist ein einziger Widerspruch geworden, er ist, wie es der französische Philosoph Jacques Derrida einmal beschrieb, "gleichzeitig Teil, Ursache, Wirkung, Symptom und Exempel". Ein Outlaw, der Gesetze schreibt, ein ehemaliger Geheimdienst-Mitarbeiter, der unter dem "Espionage-Act" von 1917 angeklagt ist, ein patriotischer Dissident, der des Verrats bezichtigt wird, der die subjektiven Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger schützen wollte und nun ausgerechnet im Exil in Russland ausharren muss, einem Staat, der sich nicht gerade als Verteidiger der Internet-Freiheiten oder Bürgerrechte profiliert. Die fragwürdigen Praktiken der Geheimdienste werden offiziell für illegal erklärt, aber der, der auf sie hingewiesen hat, der die Gesetzeswidrigkeit als Erster aufgedeckt und veröffentlicht hat, wird nach wie vor kriminalisiert.

Die Diskussion über die Grenzen der Überwachung, über die existenzielle Bedeutung des Rechts auf Privatheit, über die notwendigen Instrumente und Strukturen der Kontrolle der Sicherheitsdienste, ob in den USA oder in Deutschland, hat sich entkoppelt von demjenigen, der sie möglich gemacht hat. Während der amerikanische Kongress letzte Woche den ersten Schritt hin zu einer komplexen Reform der Bedingungen der Überwachung definiert hat, während in der Bundesrepublik inzwischen die rechtlichen Grenzen der Kooperation von BND und NSA überdacht werden, verharrt der Exilant Edward Snowden in seinem Status als Flüchtling mit zeitlich begrenztem Asyl in Russland. Das ist, was den Anblick von Edward Snowden so spukhaft, so disruptiv wirken lässt.

In seinem Bild spiegelt sich die Widersprüchlichkeit einer vorgeblichen Wertegemeinschaft, die den überfälligen gesellschaftlichen Selbstverständigungs-Diskurs über legitime und illegitime Praktiken von Geheimdiensten endlich führt und gleichzeitig denjenigen sanktioniert und verbannt, dem sie diese Unterscheidung erst verdankt. So wird Edward Snowden unfreiwillig zum ikonografischen Zeugen der traurigen Unfähigkeit, politische Irrtümer oder Verfehlungen einzugestehen und zu korrigieren.

"Sogar der Zynismus kommt gelegen, damit man nicht vor Scham krepiert", schreibt der haitianisch-kanadische Romancier Dany Laferrière in "Das Rätsel der Rückkehr". Solange Edward Snowden angeklagt und verbannt ist, so lange wird jedes eingeblendete Bild, jedes zugeschaltete Video von ihm all jene beschämen, denen Zynismus als Immunisierung des Gewissens nicht gegeben ist. Es wird Zeit, Edward Snowden nicht länger anzuklagen, sondern ihn zurückzuholen in eine Gemeinschaft, ob in Amerika oder Europa, die ihn für die Diskussion über ihre Rechte und Werte immer noch braucht.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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