Kolumne:Defizit

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Die griechische Schuldenkrise gilt als ökonomische Krise. Aber sie fördert Probleme zutage, die ganz woanders liegen als in Bilanzen und Haushalten.

Von Carolin Emcke

Es muss beneidenswert sein, auf die griechische Krise und die antizipierten Szenarien ihrer Entwicklung zu schauen und eine stabile Haltung einnehmen zu können: Für einen "Grexit" und eine Rückkehr zur griechischen Drachme oder für die zwischenzeitliche Einführung einer Parallelwährung oder für einen Verbleib Griechenlands in der Gemeinschaftswährung. Am besten gepaart mit Begründungen: Welche Kosten wer zu tragen hätten, aus welchen Instituten oder Notenbanken welche Anleihen oder Schuldscheine wem ausgestellt werden würden und wer davon jeweils profitierte. Ich dagegen höre den überzeugten Überzeugern bewundernd zu, und das Einzige, was sich bei mir stabil zeigt, ist meine ökonomische Begriffsstutzigkeit.

Von Makroökonomie, von Hebeln der Refinanzierung von Kapitalmärkten, von den Möglichkeiten, Schulden zu verschieben, zu vergemeinschaften oder zu verwandeln, verstehe ich schlicht nicht genug, um die verkeilten Positionen in der öffentlichen Debatte beurteilen zu können. Ganz gleich, wie viele Gesprächssendungen ich schaue oder wie viel ich lese, die einzige Konstante im Verlauf des nun schon fünf Jahre währenden Notstands bleibt meine analytische Unsicherheit. Ich schwanke permanent, und die einzige Lernkurve, die sich abzeichnet, ist, dass ich präziser artikulieren kann, was ich nicht verstanden habe.

Dazu gehört, dass ich nicht verstanden habe, wie diejenigen, die etwas von Ökonomie verstehen, bei der Kreditvergabe annehmen konnten, Griechenland würde einen Primärüberschuss von 4,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaften können. Man muss kein Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften sein oder viel über den griechischen Staatshaushalt wissen, um zu erkennen, dass diese Forderung von vornherein irreal war. Es reicht, sich die Vergleichszahlen aus anderen europäischen Ländern anzuschauen und sie ins Verhältnis zu setzen: Deutschland kam in dem Jahr 2013 lediglich auf ein Primärsaldo von 2,15 Prozent.

Wie konnten Kreditgeber oder -nehmer jemals Konditionen für Kredite verlangen oder ihnen zustimmen, die nachgerade fantastische Prognosen der griechischen Entwicklung voraussetzten? Die Frage müssen sich beide Seiten gefallen lassen. Man muss nicht Joseph Stiglitz sein, um zu bezweifeln, dass allein die Senkung von Lohnkosten und eine strikte Spar- und Reformpolitik die griechischen Exporte so exorbitant würden ankurbeln können. "Wer Optimist ist oder bleiben will", schreibt Anne Weber in ihrem klugen Roman "Ahnen", "sucht sich besser erfüllbare Ideale."

Wenn sogar ich kalkulieren kann, dass ein Schuldenberg von mittlerweile 300 Milliarden Euro nicht abzutragen ist (oder seine Fristen so weit in die Zukunft verlängert werden, dass sein Wert sich verpulverisiert), warum steht das Eingeständnis der Kreditgeber, dass das Geld schlicht weg ist, nicht am Anfang aller Gespräche? Warum bleibt ein Schuldenschnitt oder eine Umschuldung tabu, wenn doch die Annahme, die Schulden könnten zurückgezahlt werden, schlicht kontrafaktisch zu sein scheint? Dem wirtschaftspolitischen Laien drängt sich der Eindruck auf, dass auch die beste rationale Handlungstheorie die Verhandlungen nicht optimieren kann, weil schlicht nicht sicher ist, ob ausreichend Rationalität unterstellt werden kann. "Aus Liebe zu der Wunde wirft man den Dolch nicht hin", heißt eine Zeile der Dichterin Emily Dickinson; so wirken die in wechselseitigen Vorwürfen verhafteten Parteien. Als ob sie lieber ihre Verletzung oder ihre Kränkung durch den jeweils anderen bewahren wollten, als selbstkritisch auch eigene Illusionen oder Versäumnisse zu überwinden.

Sicher ist hingegen, dass sich jenseits aller ökonomischen Kontroversen enorme demokratische Defizite in Europa aufgetürmt haben, die abzutragen mindestens so dringlich wäre. Wo die Währungsunion ursprünglich als Vehikel einer nachziehenden politischen Integration gedacht war, untergräbt sie gegenwärtig eher demokratische Prozesse, als sie zu erweitern. Wann immer Angela Merkel, formal vielleicht zutreffend, auf die Troika als zentrales Organ verweist, das über den Umgang mit Griechenland zu befinden habe, dann artikuliert sie auch eine gespenstische Machtlosigkeit demokratisch legitimierter Politik gegenüber nicht gewählten Instanzen. Ist es wirklich selbstverständlich, dass die Troika und nicht mehr die Bürgerinnen und Bürger die Bedingungen der Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft definieren? Wohin hat sich der demokratische Souverän verflüchtigt?

Wenn Yannis Varoufakis, real vielleicht zutreffend, auf die Unmöglichkeit verweist, in Griechenland Steuern einzutreiben, dann artikuliert er auch eine beunruhigende Gleichgültigkeit einer Regierung gegenüber ihren eigenen Institutionen. Aus welchen Quellen sollen denn die Bedürftigen einer Gesellschaft gestützt werden, aus welchen das Bildungswesen, die Gesundheitsvorsorge, wenn nicht vor allem aus Steuereinnahmen?

Im Schatten der Schuldenkrise haben sich die öffentlichen Diskurse so re-nationalisiert, dass die Idee der europäischen Solidarität zunehmend verkümmert zu bloßem Lobbyismus für nationale Gläubiger. Nur so erklärt sich der wachsende Gleichmut gegenüber den Marginalisierten anderswo, denen, die ihre Arbeit verloren haben, deren Wohnungen zwangsgeräumt wurden, die über keine Krankenversicherung mehr verfügen - als seien dies lediglich ökonomische Verwerfungen an der europäischen Peripherie und nicht soziale Risse im Zentrum des demokratischen Selbstverständnisses Europas. Vielleicht liegt hierin eine der Chancen der Griechenland-Krise: Dass sie sichtbar macht, wie die europäischen Versprechen auf Partizipation, auf Inklusion und auf demokratische Verfahren der Selbstbestimmung ausgehöhlt werden.

Gebraucht werden womöglich nicht nur Mechanismen, die Griechenland aus seinem ökonomischen Dilemma lösen, sondern auch ein politischer New Deal, der die demokratischen Defizite Europas korrigiert.

© SZ vom 20.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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