Kölner Hauptbahnhof:Potenziell tödlich

Lesezeit: 4 min

Die Ermittlungen führen in ein Feld, das zunehmend Probleme bereitet: Wie lässt sich gewöhnliche Gewaltbereitschaft abgrenzen von Terrorismus?

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke, Berlin

Schon wieder hat es Köln getroffen, die Stadt, die erst vor drei Monaten einem mutmaßlichen Anschlag mit Rizin entgangen ist. Damals deckten die Behörden einen Plan auf, der so erschreckend wie einfach war - und in dessen Mittelpunkt ein Islamist mit überaus klarem Täterprofil stand. Feste Verankerung in der Ideologie, Chats mit Hintermännern der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Eine in mancher Hinsicht typische Dschihadistenbiografie. Jetzt ist es einmal andersherum.

"Teilweise wirr" seien die politischen Forderungen gewesen, die am Montagnachmittag ein Mann im Kölner Hauptbahnhof stellte, so erschien es den Beamten. Der Mann, ein anerkannter Flüchtling aus Syrien namens Mohammed Abo R., 55 Jahre alt, längere graue Haare, Dreitagebart, verwahrlost wirkend, Zeugenaussagen zufolge auch "wahrnehmbar alkoholisiert", habe in Verhandlungen mit der Polizei, die in arabischer Sprache über ein Telefon geführt wurden, unter anderem eine Tunesierin freipressen wollen. Wer ist die Frau? Unklar.

Kurz nach 15 Uhr entschieden sich die Beamten eines Spezialeinsatzkommandos (SEK), das äußerste Mittel zu ergreifen, das ihnen das Polizeirecht in Deutschland zugesteht: potenziell tödliche Schüsse. Zwei Stunden lang hatte sich der Geiselnehmer bereits in der Bahnhofsapotheke verschanzt, er hatte eine Mitarbeiterin als Geisel genommen, nun hatte er sie mit offenbar brennbarer Flüssigkeit übergossen und gedroht, sie anzuzünden. Die Beamten schossen ihn nieder, die Apothekenmitarbeiterin wurde dabei nur leicht verletzt.

Womöglich war dies der eigentliche Plan: ein Attentat im Schnellrestaurant

Er gehöre zu "Daesh", soll er in der Apotheke gerufen haben. Neben einer echt aussehenden Gaspistole soll er dort auch größere Mengen an Sprengmitteln bei sich gehabt haben, blaue Campinggaskartuschen und Flaschen mit Brandbeschleuniger, einige davon mit Klebeband verbunden und mit Stahlkugeln präpariert. Waffen, wie er sie kurz zuvor schon einmal eingesetzt hatte, nämlich nebenan in einer McDonald's-Filiale, ein 14-jähriges Mädchen dort hatte Feuer gefangen und war schreiend nach draußen gerannt. Womöglich war dies der eigentliche Plan gewesen: ein Attentat im Schnellrestaurant.

Nach dem Ende der Geiselnahme am Montagabend: Der Täter ist ins Krankenhaus gebracht, nun untersuchen die Spurensicherer der Polizei den Tatort, eine Apotheke am hinteren Ausgang des Kölner Hauptbahnhofs. (Foto: Michael Gottschalk/Getty)

Was genau den Mann angetrieben hat, das ist am Tag danach noch immer rätselhaft. Nach den SEK-Schüssen musste der Geiselnehmer reanimiert werden, am Dienstag lag er noch immer auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Koma, zu keiner Aussage fähig. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung im Stadtteil Neuehrenfeld sammelten die Beamten Handys und andere Gegenstände ein. Die Auswertung aber hat gerade erst begonnen.

Die Ermittlungen in Köln führen mitten in ein Feld, das Staatsschützern seit Jahren zunehmend Schwierigkeiten bereitet: Wie lässt sich gewöhnliche Gewaltbereitschaft, womöglich gepaart mit psychischer Instabilität, abgrenzen von Terrorismus? Reicht für einen IS-Bezug schon, wenn der Täter eine entsprechende Parole skandiert oder die Pamphlete der Terrororganisation gelesen hat? Nichts ist leichter, als solche Parolen zu rufen. Nichts erzeugt mehr Angst und Schrecken, auch mehr mediale Aufmerksamkeit. Umso vorsichtiger gilt es, die Dinge zu prüfen. Die Grenze wird immer schwieriger zu ziehen.

Die Polizei, so zeigt sich in Köln, kannte den Mann bereits. Aber nicht als Extremisten, sondern als Kleinkriminellen. Er wartete offenbar darauf, seine Frau aus Syrien nachzuholen, wegen psychischer Probleme konnte er in Deutschland keiner Arbeit nachgehen. Die Beamten haben sich seit seiner Ankunft in Deutschland im Jahr 2015 immer wieder mit ihm beschäftigen müssen, es gab 13 Ermittlungsverfahren wegen unterschiedlicher Taten - Betrug, Hausfriedensbruch, Drogen, Urkundenfälschung, Bedrohung. In die islamistische Szene aber hatte er nach bisherigem Stand keine Kontakte. Im Gegenteil, einmal half er der Polizei sogar mit Hinweisen auf einen angeblichen IS-Sympathisanten.

Immer häufiger ist in den vergangenen Monaten im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern über syrische Flüchtlinge diskutiert worden, die in eben dieses Muster passen: Es sind jene, denen die Integration nicht gelingt und die zunehmend verzweifelt darauf reagieren. Sie sind voller Wut, Verzweiflung, manche von ihnen befinden sich in medizinischer Behandlung. Es ist eine kleine Minderheit, aber groß genug, um den Sicherheitsbehörden erhebliche Sorgen zu bereiten.

Seit 2017 zählt die Statistik im Bereich des islamistischen Terrorismus nur einen vollendeten Fall, es ist der des Hamburger Messerattentäters Ahmad A., der in einem Supermarkt wahllos auf Passanten einstach. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben, bei solchen Taten die wahren Hintergründe auszuleuchten, die Entscheidung fällt nicht leicht, ob man sie offiziell als Akt des Terrorismus werten soll. Zumal einige Täter danach zu streben scheinen, möglichst als Terroristen dazustehen. Ganz so, als bedeute dies, dass sie besser seien als "gewöhnliche" Verbrecher.

Der Hamburger Messerstecher Ahmad A. wollte unbedingt als IS-Mann betrachtet werden, er forderte einen Polizisten auf, neben seine Unterschrift in einem Formular den Satz hinzuzufügen: "Ja, ich bin Terrorist." Im Grunde lag aber auch dieser Fall auf dem schmalen Grat zwischen Ideologie und Psychose: Eine Psychologin in der Untersuchungshaft in Hamburg attestierte Ahmad A. paranoiden Wahn, Ich-Störung, emotionale Starre. Der Hamburger Messerstecher zeige alle Merkmale eines gewöhnlichen Amokläufers, legte selbst der Hamburger Verfassungsschutz-Chef Torsten Voß in einem Interview mit der Zeit nahe. "Einer, der die Religion nur benutzt, um seine Tat vor sich selbst zu rechtfertigen." In Hamburg übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen, er ist zuständig für Fälle von Terrorismus. Auch in Köln wird die Bundesanwaltschaft den Fall übernehmen. Es ist kein Votum, die Tat definitiv als Terrorismus einzustufen. Sondern nur dafür, die Sache gründlich auszuermitteln. Köln ist abermals ein Grenzfall: Auf der einen Seite ist da ein Täter, der sich zum IS bekannt haben soll. Der an einem öffentlichen Ort zuschlug. Der seine Opfer wahllos attackierte.

Auf der anderen Seite aber ist er etwa doppelt so alt wie die meisten Dschihadisten, und er soll in der Apotheke nicht IS sondern "Daesh" gesagt haben. Dieses Wort benutzen die Gegner des sogenannten Islamischen Staates. Der IS betrachtet "Daesh" als Schmähwort, die Terrororganisation hat den Ausdruck bei Strafe verboten. Über eine Einbindung des Kölner Täters in die terroristische oder salafistische Szene ist zumindest bislang nichts bekannt.

© SZ vom 17.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: