Katastrophe:Staub, Schutt und Schuldzuweisungen

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Regierungschef Renzi verspricht einen schnellen Wiederaufbau. Jedenfalls das wäre anders als früher.

Von Oliver Meiler

Zweiundsiebzig Stunden. Wie ein Mantra wiederholen die italienischen Fernsehsender, dass damals, vor sieben Jahren in L' Aquila, ein Verschütteter 72 Stunden nach dem Erdbeben lebend aus den Trümmern geborgen werden konnte. Die Erinnerung soll die Angehörigen stärken. Und es soll die Helfer motivieren, die seit zwei Tagen in Amatrice und Accumoli, in Arquata und Pescara del Tronto nach Überlebenden suchen. 17 Stunden stand ein kleines Mädchen unter der dichten Schuttdecke durch, bis sie die Helfer befreien konnten. Der Nachrichtensender Sky TG24 filmte live, wie sie Giulia aus dem Loch zogen, Staub am ganzen Leib und an den langen Haaren. Sie legte erschöpft ihre Arme um den Hals des Feuerwehrmannes. Rundherum klatschten sie, machten sich Mut: "Dai, dai!"

Giulias Rettung ist ein seltener Glücksmoment. 250 Menschen wurden mittlerweile tot geborgen in den vier Dörfern, und vieles wies darauf hin, dass die Zahl der Toten noch steigen würde.

Nach dem letzten Beben wurde ein Geophysiker angeklagt, weil er angeblich zu spät gewarnt hatte

Am späten Donnerstagabend rief Italiens Regierung den Notstand aus. Der Bürgermeister von Amatrice, Sergio Pirozzi, sprach von "mehr als 200 Opfern" allein in seiner Gemeinde. Viele Besucher waren gerade in Amatrice, wie immer im August. Besondere Sorge bereitete das Schicksal der Gäste eines berühmten Hotels, das die Menschen in Amatrice gemeinhin Ristorante Roma nannten, obschon es eigentlich Hotel Roma hieß. Bekannt war es für seine Spaghetti all' Amatriciana, die Spezialität des Ortes. An den Wänden des Ess-Saals hingen Bilder von Papst Johannes Paul II. und vom früheren italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, die einst beide hier gegessen haben. Zunächst hieß es, die Hotelzimmer seien mit 70, 80 Urlaubern voll besetzt gewesen, als die Erde um 3.36 Uhr bebte und das Gebäude fast total zerstörte. Später wurde die Zahl der Buchungen auf 35 gesenkt. Gefunden wurden zunächst nur vier Leichen. Die Seite mit den besten Zimmern, jene mit Aussicht auf die Berge, wurde am stärksten verheert.

Eine besonders traurige Geschichte trug sich in Arquata zu, wo eine junge Familie ein Ferienhaus besaß. Die Ehefrau hatte das Erdbeben von L' Aquila überlebt und war mit ihrem Mann nach Ascoli Piceno gezogen, in die Marken, weil sie sich da sicherer fühlte. Auch wegen Marisol, ihrer Tochter. Die ganze Familie wurde verschüttet, als ihr Ferienhaus implodierte. Mann und Frau konnten gerettet werden. Die kleine Marisol, eineinhalb Jahre alt, atmete noch, als man sie aus den Trümmern zog und mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus von Ascoli brachte. Sie starb auf dem Weg.

Tausende Menschen sind obdachlos und werden vom Zivilschutz und vom Roten Kreuz versorgt. Italiens Regierungschef Matteo Renzi hat bei seinem Besuch in der Unglücksregion angekündigt, dass niemand alleingelassen werde in seinem Leid, und dass die Dörfer nach einem klaren Zeitplan schnell wieder aufgebaut würden. Im Versprechen steckte ein politischer Seitenhieb gegen frühere Regierungen, die sich beim Wiederaufbau zerstörter Städte und Dörfer viel Zeit ließen. Das politische Polemisieren gehört in Italien genauso zum Ritual nach einem Erdbeben wie die Vorwürfe an die Wissenschaftler.

In den Zeitungen erinnern Geophysiker nun wieder spürbar genervt daran, dass die Geophysik zwar eine ernsthafte Wissenschaft sei, aber leider nicht imstande, Erdbeben vorauszusagen. Weder in Italien, noch irgendwo sonst in der Welt. Geäußert werden die Vorwürfe meist von Politikern, die damit von den eigenen Versäumnissen ablenken wollen. Besonders eklatant war der Fall von L' Aquila, als dem damaligen Chef des nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie, Enzo Boschi, der Prozess gemacht wurde, weil er angeblich nicht genügend gewarnt hatte. Im Berufungsverfahren wurde die Anklage dann zwar fallen gelassen. Aber Boschi hatte Job und Ehre verloren. Auch er meldet sich jetzt in den Medien und fragt sarkastisch, ob denn nun wieder einem Geophysiker der Prozess gemacht werden soll.

Für die ersten Hilfeleistungen hat die Regierung 50 Millionen Euro freigegeben. Das ist natürlich nur ein Bruchteil dessen, was insgesamt fällig werden wird. In den vergangenen 40 Jahren hat der italienische Staat mehr als 150 Milliarden Euro dafür aufgewendet, um die Schäden zu reparieren, die acht große Erdbeben im Lande verursacht haben. Prävention wäre billiger gekommen, und sie hätte wahrscheinlich auch viele Menschenleben gerettet.

Die meisten Obdachlosen schlafen nun in Zeltlagern, die auf offenen Wiesen und Sportplätzen errichtet wurden, weit weg also von Häusern und möglichen Steinschlägen. In der Nacht wird es in dieser Bergregion auch im Sommer empfindlich kalt. Viele Menschen mochten die erste Nacht aber nicht fern von ihren Häusern verbringen und schliefen in ihren Autos. Vor allem jene, deren Häuser nur teilweise zerstört wurden, fürchten sich vor so genannten "Schakalen", wie die Italiener Plünderer nennen. Sie könnten sich an ihren Hausrat machen. Es soll schon Vorfälle gegeben haben. Das erzählt man sich wenigstens. Und der Staat hat Soldaten und Polizisten in die Region beordert, damit sie über die Häuser wachen, über die letzte Habe von Menschen, die fast alles verloren haben.

Viele schlafen in ihren Autos, aus Angst vor Nachbeben - und den "Schakalen"

Die Nächte sind auch deshalb ein Quell der Sorge und der Angst, weil die Erde noch immer regelmäßig bebt. Eines der Nachbeben erreichte die Stärke von 4,3 auf der Richterskala. Wieder zitterte die Erde mitten in der Nacht. Das Beben brachte einige Häuser, die bereits stark beschädigt waren, ganz zum Einsturz. Dennoch gibt es offenbar Bewohner, so sagt es der Bürgermeister von Arquata, die bereits angekündigt haben, dass sie ihre Häuser exakt dort wieder aufbauen wollen, wo sie nun in Schutt liegen.

An Hilfen und Spenden soll es nicht mangeln, es laufen bereits mehrere Aktionen. Eine interessante Idee kam aus den sozialen Netzwerken. Da wurde vorgeschlagen, die Ausschreibung für den nächsten Jackpot im Superenalotto, Italiens am besten dotierter Lotterie, wieder zurückzunehmen und das Geld stattdessen als Aufbauhilfe ins Erdbebengebiet zu schicken. Der Jackpot beträgt gerade nicht weniger als 129 Millionen Euro. Geld aus der Lotterie für etwas Linderung nach der Lotterie der bebenden Erde.

© SZ vom 26.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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